Am Wegesrand aufgelesen

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Der Film ist ein Roadmovie im Fotomobil, bei dem die sogenannten einfachen Leute im Zentrum stehen. Wie magisch entsteht dabei ein Porträt einer Region, eines Staates, ja Europas.

Die Geschichten von Agnès Varda haben etwas Unentwegtes, Rastloses: Die gerade 90 Jahre alt gewordene belgische Filmemacherin spürt ohne Unterlass und nicht gerade im Rentnertempo neuen Bilderwelten und Entwicklungen der Narration nach, als wäre sie eine junge Künstlerin, die sich ausprobieren möchte. Doch Vardas jüngere Arbeiten haben nicht nur diesen Entdecker-Esprit, sondern versprühen zugleich auch eine schrullige Weisheit, ein Gefühl von Erhabenheit, aber keinesfalls in einem überheblichen Sinne.

Varda, die große, alte Dame der Nouvelle Vague, probiert und studiert, seziert und deutet, zieht in Zweifel und durch den Kakao. "Augenblicke: Gesichter einer Reise" heißt ihr jüngstes Werk, das sie gemeinsam mit dem Streetart-Künstler und Fotografen JR in die Tat umsetzte. Die Idee: Der 33-Jährige und die 90-Jährige fahren gemeinsam im Bus quer durch Frankreich, von der Normandie bis in die Provence, und treffen unterwegs die unterschiedlichsten Menschen, die sie nicht nur filmen, sondern auch fotografisch verewigen. Vielen macht JR seine Spezialität, nämlich haushohe, auf Wände aufkaschierte Fotografien, zum Geschenk. Da lacht dann der Bauer in einer Größe von sieben Metern von der eigenen Scheune. Das gibt tolle Motive.

Natürlich zirkelt bei so einem Regie-Gespann in "Augenblicke: Gesichter einer Reise" alles um die Welt der Bilder; sie sind sowohl für JR als auch für Varda nicht nur Brotjob, sondern immer auch Leidenschaft gewesen. Und die Bilderwelt ist verlockend und anfällig für jegliche Art von Manipulation -auch damit spielt dieser Film mit einer großen Lust.

"Vom Zufall beraten"

Er holt außerdem vor die Kamera, was Frankreichs Essenz bildet. Ein Roadmovie im Fotomobil, bei dem die sogenannten einfachen Leute im Zentrum stehen, vom Briefträger über den Fabrikarbeiter bis hin zur letzten Bewohnerin eines ehemaligen Bergbaugebietes. Sie alle lassen Varda mit ihrer schnoddrigen, aber liebenswürdigen Art nachforschen, bitten sie herein und lassen sich im Alltag zusehen. Wie magisch entsteht dabei ein Porträt einer Region, eines Staates, ja Europas. Und alles trägt Vardas Signatur. Trumpf der filmischen Umsetzung dieses Besucherreigens ist, dass sich Agnès Varda und JR dazu entschlossen haben, höchstselbst durch den Film beziehungsweise durch diese Versuchanordnung einer Bestandsaufnahme zu führen. Das gebiert so manche launige Szene, so manch komische Begegnung und so manch humorige Einlage der Regie-Legende Varda, die für ihren spitzbübischen Charme vor und hinter der Kamera bekannt ist. Das Potpourri aus ernsten Momenten und heiteren Passagen funktioniert derartig gut, dass es sogar einem breiteren Publikum zumutbar ist. Nicht zuletzt deshalb wurde "Augenblicke: Gesichter einer Reise" 2018 auch für einen Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert.

Dass sich bei Vardas und JRs Film so einiges vor der Kamera abspielt, was zufällig und ungeplant aussieht, entspricht auch völlig dem Konzept der Regisseurin, die viele Entscheidungen seit jeher aus dem Bauch heraus getroffen hat und sich dabei, wie sie selbst sagt, "gerne vom Zufall hat beraten lassen". Und so ist diese Dokumentation genau das, was Vardas Filmografie eine Krone aufsetzen könnte: Losgelöst von einem Zwang zur Ordnung, mäandert die Dramaturgie von einem Höhepunkt zum nächsten, ohne dabei bemüht zu wirken. Es ist ein sehr organischer Film geworden, vielleicht am besten vergleichbar mit Bio-Gemüse: Nicht überall geradlinig oder richtig gekrümmt, aber die wahre Schönheit erschafft sich die Natur von selbst -da braucht es kein Zutun. Es ist, als hätten Agnès Varda und JR dies verstanden und in diesem kleinen, großen Film uns allen mitgeteilt.

Augenblicke: Gesichter einer Reise F 2017. Regie: Agnès Varda, JR. Dokumentarfilm. Filmladen. 94 Min.

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