
„An einem schönen Morgen“: Ein Vexierbild der Gefühle
„An einem schönen Morgen“: Mia Hansen-Løve kehrt ins frankophone Kino sowie in die cineastische Bearbeitung des französischen Bildungsbürgertums zurück.
„An einem schönen Morgen“: Mia Hansen-Løve kehrt ins frankophone Kino sowie in die cineastische Bearbeitung des französischen Bildungsbürgertums zurück.
Hierzulande wurde Mia Hansen-Løves „An einem schönen Morgen“ als Abschlussfilm der diesjährigen Viennale geadelt. In Cannes gewann der Film 2022 die Schiene „European Label Cinema“. Jedenfalls ist die französische Regisseurin nach einem Ausflug ins englischsprachige Filmemachen wieder in ihrem eigentlichen Element angekommen, nämlich dem cineastischen Blick aufs französische Bildungsbürgertum des 21. Jahrhunderts. Sandra Kienzler ist Übersetzerin und alleinerziehende Mutter der sechsjährigen Linn. Ihr Vater Georg, einst ein gefeierter Professor für Philosophie und deutsche Literatur, leidet an der seltenen neurodegenerativen Erkrankung Benson-Syndrom, bei der der Patient zuerst nicht mehr sehen kann, dann aber auch verwirrt und dement wird. Georg wird außer von seiner Tochter und seiner Gefährtin Leïla vor allem von seiner Ex-Frau Françoise betreut, die zwar seit 20 Jahren von Georg geschieden ist, sich aber jetzt intensiv um einen bezahlbaren Heimplatz für Georg müht, der sichtlich nicht mehr allein leben kann. In dieser nicht bloß emotional stressigen Zeit läuft Sandra ihrem alten Freund Clément über den Weg – und beginnt mit ihm eine leidenschaftliche Affäre. Allerdings ist Clément verheiratet und hat einen Sohn, was die Situation für Sandra um nichts entspannter macht: Im Gefühlswirrwarr zwischen dem Geliebten, dessen Verpflichtungen zu seiner Partnerin und dem Sohn gegenüber, der Notwendigkeit, sich um den immer abwesenderen Vater zu kümmern sowie die eigene Tochter Linn nicht zu vernachlässigen, kommt Sandra ganz schon in die Bredouille.
Man merkt aber von allem Anfang dieser Geschichte an, dass Mia Hansen-Løve in der filmischen Übersetzung dieser komplexen Konstellation von „Familie“ in ihrem Element ist. Ja, es sind gleich mehrere Tragödien, die sich in diesem Setting auftun. Aber Hansen-Løve macht keinen emotionalen Katastrophenfilm daraus, sondern begibt sich in die Rolle der leisen, unaufgeregten, aber klarsichtigen Beobachterin, welche ihr Publikum an den Verwerfungen all dieser Leben teilhaben lässt und gleichzeitig an den leisen Hoffnungen, die sich da erst recht auftun.