brüder der nacht - © Stadtkino

"Brüder der Nacht": Das Leben kann eine Illusion seIn

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Patric Chihas "Brüder der Nacht" ist eine außergewöhnliche Hommage an junge Roma-Burschen aus Bulgarien, die sich in Wien an solvente Herren verdingen.

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Patric Chihas "Brüder der Nacht" ist eine außergewöhnliche Hommage an junge Roma-Burschen aus Bulgarien, die sich in Wien an solvente Herren verdingen.

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Die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit ist, hat bekanntlich ein österreichisch-stämmiger Kommunikationstheoretiker in einen Buchtitel gegossen. Auch das Filmgenre erweist sich seit Jahr und Tag als Reflexionsmedium dieser Ur-Frage der Menschheit, wie sie eben unter anderem Paul Watzlawick gestellt hat.

Patric Chihas dokumentarisch anmutender Film "Brüder der Nacht" ist das aktuellste Beispiel dazu: In Wien stranden junge Roma aus Bulgarien, dem Anschein nach gerade volljährig - aber auch das ist mutmaßlich schon eine Verdrehung der Wirklichkeit - und bieten ihre jugendlichen Körper zahlungswilligen Männern feil. Zu Hause am Balkan sind sie früh - etwa schon mit sechzehn -verheiratet worden und wurden oft genug sogleich Vater. Eine gestohlene Jugend, die sie nun schnell in der Donaumetropole -neben ihren Geschäften mit den Freiern - nachholen.

Das Setting ist somit klar -und auch, dass es eine Anmutung von Wirklichkeit ist, in der die Boys aus dem fernen Land hier schwelgen. Doch ob das, was sie hier von sich geben, wirklich wirklich ist? Etwa die immer höheren Summen, mit denen sie sich gegenseitig den jeweiligen Obolus für ihre Freiersdienste hinauflizitieren

Festhalten eines Augenblicks

Spätestens in dieser Szene schwant auch dem unbedarftesten Zuschauer, dass es den Filmemachern gar nicht darum geht, die Lage und das Elend der Liebesdiener zu dokumentieren. Sondern Patric Chiha ist es ums Festhalten eines Augenblicks zu tun, der für vom Leben nicht im Übermaß bedachte junge Männer den Ausbruch aus trister Existenz bedeutet. Zu Hause wartet die Mädchenfrau, mit der sie jeweils verheiratet sind, und das Baby - sowie vor allem die gesellschaftliche Kontrolle durch Großfamilie und Clan.

Ausbruch aus größerer Tristesse

Man erahnt die bittere Armut, in der dieses Leben bislang stattfand - und beginnt zu verstehen, dass die Tristesse der schwulen Prostitutionskultur, in der die Burschen in Wien leben, einen Ausbruch aus der größeren Tristesse, die sie bisher erfahren haben, bedeutet.

Das und nichts anderes zeigt Patric Chiha in "Brüder der Nacht". Er verkneift sich jede "moralische" Aussage, denunziert weder die Freier noch die Stricher, die eben auch keine Unschuldslämmer sind. Und er hat nicht Sozialkritik im Sinn -weder brandmarkt er die (sexuelle) Ausbeutung der Burschen durch die ungleich solventeren Wiener, noch klagt er das Gefälle zwischen dem reichen Mitteleuropa und dem bitterarmen Balkan an. Und schon gar nicht nimmt er sich der Unerbittlichkeiten der Roma-Gesellschaft, die diese jungen Männer prägt, an.

Augenblicke kitzekleinen Glücks

Genau hier liegt aber die Betörung und die Grandezza von "Brüder der Nacht": Das Leben kann eine Illusion sein, zumindest für einen Moment, und es kann hier prall werden, auch wenn es davor und danach wenig zu lachen gibt. Mag sein, dass hier nur die Trance einer Existenz vorgegaukelt wird, aber diese Augenblicke der Entrücktheit, ja sogar des kitzekleinen Glücks offenbaren auch Momente von Würde, die in diesem Setting sonst so fremd scheint.

Keine Frage, dass über all dem eine Patina der Künstlichkeit liegt - so hat die Anmutung, mit der Wien zur Hafenstadt an der Donau mutiert, auch etwas ausgesprochen Abstruses an sich. Aber die Übersteigerung ins Artifizielle ist auch eine Seite des Lebensmuts und der Lebensfreude, die sich diese Brüder der Nacht dann doch - und Gott sei Dank! - herausnehmen.

Selbstredend "funktioniert" Patric Chihas "Dokumentarfilm" nur mit "echten" Protagonisten, es gehört zur Kunst der Macher von "Brüder der Nacht", dass sie aus den blutigen Laien authentische Filmgestalten werden ließen, die eine Leinwandpräsenz zeigen, die erstaunlich ist.

Wer erwartet, hier einen Film über einen speziellen Ausschnitt der schwulen Subkultur Wiens zu sehen, wird enttäuscht sein -oder überrascht, weil er eben nicht einer bloß verkauften (oder käuflichen) Sexualität begegnet, sondern Burschen, die das Leben auf ihre, sicher eingeschränkte Weise genießen - und genau dies den Zuschauer in aller Körperlichkeit auch spüren lassen.

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