Diese junge Hoffnung auf eine BESSERE ZEIT

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Aus Cannes konnte Alicia Rohrwacher heuer den Preis für das Beste Drehbuch mit nach Hause nehmen. Und die Viennale adelte "Glücklich wie Lazzaro", indem sie das zeitgenössische Märchen zum Eröffnungsfilm erkor. Eine mehr als plausible Wahl, enthält das jüngste Opus der italienischen Regisseurin doch eine große Zahl an Erzählebenen und eröffnet viele Interpretationsmöglichkeiten. Und es ist, auf seine Weise, durch und durch politisch in politisch so dürrer Zeit.

Philosophische, religiöse und historische Motive zuhauf - und das alles in ein fantastisches Setting eingebettet. Auch mit diesen Attributen kann "Glücklich wie Lazzaro" charakterisiert werden.

Der reine Tor anno 2018

Alice Rohrwacher lässt in ihrem Film das Motiv des reinen Toren, der ja seit jeher durch die Literatur-und Kulturgeschichte geistert, neu erstehen. Und sie hebt Lazzaro, wie dieser Tor im Film heißt, aus der Tristesse des geschilderten Alltags wie aus der Zeit überhaupt heraus und macht, dass in ihm alle Hoffnung einer unvollkommenen Welt und einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit, die aber zugleich Gegenwart ist, kulminiert. Dieser moderne Simplicissimus trägt die Perspektiven, und man muss sich diesen Film lang Zeit nehmen, zu entdecken, ob sich diese auch erfüllen. Das Gefühl ebendieser Zeit hält dunkle Ahnung bereit -zuviel ist im Europa anno 2018 geschehen, als dass die Unschuld ungeraubt bliebe.

Hinter den sieben Bergen -erzählt "Glücklich wie Lazzaro"(die biblische Konnotation des Namens ist unter Garantie ebenso gewollt wie die Anklänge an Pier Paolo Pasolinis "1. Evangelium - Matthäus") - also irgendwo im Süden Italiens findet sich das verarmte Landgut Inviolata. Obwohl die Ausstattung nahelegt - es gibt Handys etc. - dass sich das Ganze gegen Ende des 20. Jahrhunderts abspielt, herrscht die Marquesa de la Luna wie eine Feudalherrin vor Hunderten von Jahren. Sie hält sich ihre Landarbeiter als Leibeigene, die Kinder Analphabeten wie die Eltern, und drangsaliert sie mittels eines Verwalters, der den tumben Bauersleuten (angebliche) Schulden über Schulden anhäuft.

Lazzaro ist einer aus dieser Sippe, ein junger Mann, der von den Altvorderen herumgeschubst wird. Aber in seiner Gelassenheit und fröhlichen Naivität stellt er eine Gegenfigur zur kargen und bitteren Existenz, die da geschildert wird, dar.

Eines Tages kommt Tancredi, der Sohn der Marquesa, aus der Stadt. Der junge Mann hasst das einfältige Landleben und noch mehr seine verschrobene und menschenverachtende Mutter. Tancredi und Lazzaro freunden sich an -bis das ungleiche Zueinander durch die Entwicklungen entzweit wird.

Denn irgendwann kommt die scheinbar ferne wie untätige Staatsgewalt doch darauf, was sich da unter der Fuchtel der Marquesa abspielt - und die armen Leibeigenen werden in die Stadt, die Marquesa aber ins Gefängnis transportiert. Nur Lazzaro, der in ein Fieber gefallen ist, bleibt zurück -genesen macht er sich auf den Weg in die Ferne, wo er am Rande der Stadt in einer Quasi-Obdachlosensiedlung auf die Seinen trifft.

Ewig Junger und alternde Gesellschaft

Allerdings sind Jahre vergangen, nur Lazzaro, der Reine, ist jugendlich wie damals, als die Sippschaft von den Carabinieri abgeholt wurde. Ein sonderbares Leben beginnt - der ewig Junge und die gealterte Gesellschaft, auch der gleichfalls in die Jahre gekommene Tancredi wird zum Repräsentanten einer Entwicklung, die der Zuschauer zu deuten versuchen muss.

Anhand der Gestalt des Lazzaro habe sie "von den verheerenden Veränderungen" erzählen wollen, die Italien erfahren habe, sagt Rohrwacher über ihren Film; sie wollte "vor allem den Übergang von einem materiellen Mittelalter zu einem menschlichen Mittelalter" zeigen: "Das Ende der Agrargesellschaft, die Migration vom Land an die Ränder der Städte, deren Modernität ihnen fremd war: Menschen, die das Wenige, das sie hatten, zurückließen und dann noch weniger hatten."

Die politische Philosophie, die Rohrwacher da in ihren, auf Super-16 mm gedrehten Film legt, kommt da voll zur Geltung -ein Märchen und eine Parabel zugleich. Und mittendrin Lazzaro, diese ewige Jugend, diese Hoffnung auf eine bessere Zeit, von der der gelernte Zeitgenosse aber zu wissen glaubt, dass sie nicht eintritt. Vom Italien eines Matteo Salvini konnte Rohrwacher beim Filmemachen noch nicht wirklich wissen. Aber als Kommentar zur aktuellen politischen Lage ist ihr Opus unversehens geraten. Prophetisch könnte man all das nennen. Und mitnehmend.

Grandios plausibel wird dies alles über die Darstellung des Lazzaro durch den Laienschauspieler Adriano Tardiolo -die darstellerische Offenbarung des Films. Kongenial dazu der junge Tancredi, der vom italienischen YouTube-Star Luca Chikovani verkörpert wird. Und all das in einem, ebenso prominenten wie authentischen Ensemble, aus dem Nicoletta Braschia als Marquesa und Alba Rohrwacher, die schauspielende Schwester der Regisseurin, hervorstechen.

Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro Felice) I 2018. Regie: Alicia Rohrwacher. Mit Adriano Tardolio, Luca Chikovani, Alba Rohrwacher, Nicoletta Braschia. Filmladen. 125 Min.

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