Dieser Rockstar und sein kleiner Bruder

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Selbsttherapie zuerst, dann Beziehungsporträt, erst dann eine Art Musikdoku -so lautet die Prioritätenliste von "Mistaken for Strangers". Zwar mag alles darin von der amerikanischen Alternativ-Rockgruppe "The National" ausgehen, im Endeffekt spielt diese jedoch die kleinste Geige. Weit mehr richtet sich der Blick auf den Bühnenarbeiter, der sich bei "Quiet Company", dem einzigen Lied der Band, das in voller Länge gespielt wird, als eben jener stille Begleiter hinter Sänger Matt Berninger mit dem Mikrofonkabel durchs Publikum wühlt: Es ist Tom, neun Jahre jüngerer Bruder und Filmemacher, der eingeladen wurde, mit auf Tour zu gehen -um Zeit mit ihm zu verbringen, damit er zur Hand gehen kann und um ihm zu helfen; alles davon trifft zu.

Vorweisen kann der bekennende Metal-Fan nur, dass er wieder bei den Eltern wohnt und er einige blutige Actionvideos gedreht hat, bei denen mit beständiger Regelmäßigkeit jemand Amok läuft. Nun steht er in den Katakomben einer europäischen Konzerthalle und vernachlässigt seinen Job als Roadie der Band. Er fragt, was ihn interessiert, filmt das, was ihm unter die Nase kommt, oder eben sich, wenn er gerade etwas mit der Welt zu teilen hat.

Toms Selbstbilder werden zu den häufigsten, wichtigsten Einstellungen, als die Situation aus den Fugen gerät: Der Ärger über das, was er macht und was nicht, wächst, bis schließlich auch der Bruder und Star seine schützende Hand wegziehen muss -um Tom dann wieder unter die Arme zu greifen, damit der aus dem Material einen Film machen kann.

"Hör auf zu filmen!" ist mit der häufigste Satz in "Mistaken for Strangers", und bezeichnend für eine Arbeit, die sich dem Begriff Musikdoku entzieht -und im Widerspruch dazu tiefer geht als jene offiziellen Werke, die Zugang zu allen Bereichen versprechen. Die Erwartungshaltungen des Genres werden ignoriert oder gebrochen, allein schon, da die Musik von "The National" nur Nebenschauplatz bleibt. Auch um die Band selbst dreht sich wenig. Dieses Wenige jedoch gibt vieles preis: Der Film sticht schon deshalb aus der Masse, weil Tom Berninger der Fragekatalog der Branche so unbekannt wie egal ist.

Freunde und Bruder aus der Reserve geholt

Frei von der Leber holt er mit dem, was ihm gerade einfällt, Freunde und Bruder aus der Reserve. Auf Letzteren konzentriert er sich zwangsläufig. Er verbringt Zeit mit Matt, bleibt, wenn er gehen sollte, entdeckt neben dem älteren Bruder, der ihm "nach Kaffeehaus" wirkt, den exzessiven Bühnen-Matt, der die Welt ausblendet. Unter Toms Versuch, die Beziehung zu ihm zu verstehen, nagt zwischen Selbstzerfleischung und Minderwertigkeitskomplex die Frage, warum Matt der Star ist und er in allem zu scheitern scheint, und ob all die Hilfestellung Geschwisterliebe ist oder Mitleid.

Früh im Film macht sich die Managerin Sorgen, wie "The National" in diesem Projekt wegkommen werde. Tatsächlich ist Tom Berninger schonungslos - zu sich selbst. So werden die oft semiprofessionellen Bilder auch immer mehr zum Psychogramm des Filmemachers: Im einen Moment ist die Wand zu sehen, auf der Tom mit Post-Its alle einschlägigen Szenen zu einem roten Block seines Versagens zusammengeballt hat, im anderen die Mutter, die zu Hause die Beweise für sein Talent als Comickünstler hängen hat. Dann wieder nennt der berühmtere Bruder Toms Gabe, sein Lampenfieber lösen zu können.

Zurück bleibt der Kampf von Tom Berningers inneren Engeln und Dämonen, bei dem der Schauplatz ein illustrer sein mag, die Fragen hingegen universell übertragbar: Wie verhält es sich zwischen Geschwistern, wie mit Familie und Rückhalt? Berninger hätte in seinem Film mehr darüber sagen können. Dazu hätte er aber ein Konzept gebraucht, eine Absicht, mit der er in den Dreh gegangen wäre. Die glückliche Fügung ist gerade, dass er aus seiner Spontaneität, seiner Ungeniertheit und auch seinen Problemen etwas so Bleibendes schaffen konnte.

Mistaken for Strangers USA 2013. Regie: Tom Berninger. Polyfilm. 75 Min.

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