"Lampedusa im Winter": Pragmatismus und Melancholie
Jakob Brossmanns Dokumentarfilm "Lampedusa im Winter".
Jakob Brossmanns Dokumentarfilm "Lampedusa im Winter".
Es ist so eine Sache mit dem Winter: Das Leben geht weiter. Pragmatismus und Melancholie vermischen sich innerhalb Europas momentan vielleicht nirgendwo dermaßen wie in Lampedusa, dem "Inselfelsen" im Mittelmeer, für viele Menschen das erste Anlaufziel auf ihrer Flucht in ein friedliches, besseres Leben. Rund 4500 Einwohner hat die Insel permanent, die ein Viertel so groß ist wie Österreich. Allein im vergangenen Jahr kamen etwa 130.000 Menschen auf ihrer Route nach Europa dort an - sofern sie überlebt hatten.
Der junge österreichische Regisseur Jakob Brossmann wollte mehr erfahren, entdecken, was die Medien verschweigen und sehr bald in seinem Film "Lampedusa im Winter" stellt sich da die Bürgermeisterin Giusi Nicolini mit ausgebreiteten Armen vor 25 Flüchtlinge und entschuldigt sich für die in Europa herrschenden Gesetze, an denen sie gar nichts ändern kann. Nicht in den ankommenden Flüchtlingen sieht sie - wie die Bewohner der Insel ebenfalls - die Gefahr, sondern im Umgang Europas mit diesen Menschen. Darin, wie man sie zum manipulierenden Faktor macht, zur Nummer in einem entmenschlichten System, ihnen jede Würde nimmt und jenen, die das Glück haben, einen Asylstatus zu erlangen, kaum Integrationschancen bietet.
Analogien zur Gesellschaft überhaupt
Gleichzeitig aber steht Lampedusa auch für den Umgang mit den Menschen generell an den Rändern und Grenzen unserer Gesellschaft. Brossmann entdeckt auf Lampedusa Analogien dafür, dass der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt fehlt, die Peripherien sich selbst überlassen bleiben. Er interessiert sich für konkrete Beschreibungen und Fragestellungen, dafür, den Blick für die Verhältnisse zu schärfen zwischen den Fliehenden und der "aufnehmenden" Gesellschaft, die mit vielen Problemen zu kämpfen hat, die überhaupt nichts mit den Flüchtlingen zu tun haben. Seine Ansätze arrangiert er essayistisch und erzeugt vor allem dadurch eine berührende menschliche Dringlichkeit.
Mit einer Schwarzblende, die akustisch einen Seenotruf verfolgt, beginnt Brossmann den Film und etabliert bereits hier eine dezente Medienkritik, die sich durchzieht. Er vergisst dabei aber nicht, dass die vorherrschende Aufmerksamkeitsökonomie viel dazu beiträgt, wie und was berichtet wird. Umso mehr ist sein Film die Gelegenheit für eine erweiterte Auseinandersetzung.
Auf Lampedusa gibt es eine Fußballmannschaft. Die taucht im Film immer wieder auf und auch an ihr zeigt sich, dass es ein eigenes Leben abseits der Tragödien, Katastrophen und existenziellen Nöten gibt. Das tröstet, nicht nur im Winter.