Moderne Sklaverei

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Im Grunde weiß die junge Prostituierte Joy (Joy Alphonsus) längst, dass sie einer fatalen Illusion aufgesessen ist. Schon als sie sich darauf eingelassen hat, aus ihrer Heimat Nigeria nach Wien zu kommen, um hier zu arbeiten, war ihr wohl klar, dass es sich bei dieser Arbeit um keinerlei Bürojob in einem mittelständischen Unternehmen handeln konnte. Als sie aber schließlich in Wien auf dem Straßenstrich gelandet war, da stand ihr die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.

Die Geschichte von Joy, die Regisseurin Sudabeh Mortezai in ihrem gleichnamigen neuen Spielfilm erzählt, kann stellvertretend für viele ähnliche Schicksale stehen: Zehntausende Frauen aus Nigeria arbeiten in ganz Europa als Prostituierte auf den Straßenstrichen und in Bordellen. "Sie sind Opfer eines elaborierten und perfiden Systems von Menschenhandel, einer modernen Form der Sklaverei, und müssen horrende Schulden an die Trafficker abbezahlen", sagt die Regisseurin, die ein besonderes Gespür für die sozialen Ränder der Gesellschaft zu haben scheint. Das hat sie bereits in ihrem Spielfilmdebüt "Macondo" unter Beweis gestellt.

Mortezais Figuren in "Joy" sind aber keineswegs hoffnungslose Figuren; trotz ihrer prinzipiell ausweglosen Lage brennt in ihnen sozusagen ein letzter Hoffnungsschimmer, der verheißt, einen Ausweg aus der Misere in Griffweite finden zu können. Im Fall von Joy, die bereits viel Erfahrung in ihrem Business hat, ist es die Aussicht, in Kürze alle Schulden an ihre "Madame", ihre Zuhälterin, zurückgezahlt zu haben. Schulden, die entstanden sind, weil "Madame" sie dereinst für viel Geld aus Afrika hat bringen lassen, und diese "Schulden" arbeitet sie konsequent am Strich ab.

Ihre Kollegin Precious (Precious Sanusi) steht hingegen noch ganz am Anfang dieser "Karriere": Sie kommt gerade frisch aus Nigeria, und Joy nimmt sie unter ihre Fittiche, um ihr den "Berufseinstieg" zu erleichtern, sofern das überhaupt geht. Weil Joy fast abbezahlt hat und Precious sich anfangs weigert, ihre Strich-Realität anzunehmen, kommt die "Madame" auf die Idee, Joy unter Druck zu setzen: Sie soll dafür sorgen, dass Precious ordentliche Umsätze auf der Straße macht, sonst müsse sie, Joy, für Precious mitzahlen -was diese wiederum um Jahre zurückwerfen würde und eine neue Schuldenspirale entstehen ließe. Joy ist also fortan Opfer und Komplizin zugleich. Auch ihre regelmäßigen Freier sind von ihren Plänen abseits des Straßenstrichs alles andere als begeistert. Erst mit dem Fortgang der Ereignisse tun sich für Joy zwei Lösungen auf: Weiterhin auf dem Strich zu arbeiten oder eines Tages selbst eine "Madame" zu werden.

Das System, das hinter dem Menschenhandel steckt, perpetuiert sich selbst; die Fortführung wird mit Druck und Gegendruck gewährleistet, niemand hier ist wirklich eine vertraute Seele, alle sind bloß daran interessiert, ihre missliche Lage zu verbessern. "Joy" schlüsselt bei diesem dicht erzählten Blick hinter die Kulissen eines grausamen Geschäftsmodells fabelhaft auf, welche zwischenmenschlichen Mechanismen, welche Drohungen und welche Träume hier miteinander interagieren. Sudabeh Mortezai versteht es dabei meisterlich, ihre überwiegend von Laien gespielten Figuren zu entwickeln und das Problem moderner Sklaverei aus einer weiblichen Perspektive zu betrachten. Es ist eine Schattenwelt, in die "Joy" entführt, eine Welt, die man in einer grundsätzlich hoch entwickelten Gesellschaft wie der unseren nicht vermuten würde. Und doch: Wahrscheinlich ist es genau diese Gesellschaft, geprägt von Reichtum, dem Wunsch nach schnellem Geld, von sexuellen Verlockungen, einer freien Marktwirtschaft und der Verheißung ewigen Wohlstands, die derlei Schattenwelten überhaupt erst gebiert.

Joy A 2018. Regie: Sudabeh Mortezai. Mit Joy Alphonsus, Mariam Precious Sansui. Filmladen. 101 Min.

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