"Spiele immer mit dem Publikum"

Werbung
Werbung
Werbung

Ich will die Freiheit bewahren, die eigene Vision des Zuschauers zu ermöglichen, anstatt ihm alles vorzukauen. (François Ozon)

Am Anfang steht der Blick auf eine Vagina in Großaufnahme. François Ozon serviert in seinem neuen Thriller "Der andere Liebhaber" ein provozierendes Genre-Stück von besonderer Rasanz. Die Geschichte zirkelt um die 25-jährige Chloé (Marine Vacth) die mit Magenschmerzen und psychischen Problemen kämpft. Ihr Therapeut Paul (Jéremie Renier) beendet bald die Behandlung, weil er sich in sie verliebt. Die beiden werden ein Paar, aber Chloés Beschwerden verschlimmern sich. Bald findet sie heraus, dass Paul offenbar einen Zwillingsbruder hat, mit dem sie eine hemmungslose Sexaffäre beginnt, die auf eine Katastrophe zuzusteuern scheint.

Ozons oft haarsträubende Wendungen setzt er bewusst ein; sein Ziel ist die maximale Grenzüberschreitung ausgetretener dramatischer Pfade. Das gelingt vorzüglich -wenn man sich darauf einlässt.

DIE FURCHE: Die allererste Einstellung Ihres Films zeigt einen tiefen Blick in eine weibliche Vagina. Ist das die Marschrichtung für den Film: Radikalität? Ein Spiel mit dem Zumutbaren? Ein Spiel mit dem Publikum?

François Ozon: Natürlich! In allen meinen Filmen spiele ich mit dem Publikum! Ich will eine Interaktion mit den Zuschauern erreichen und nicht neutral sein. Ich bin ja kein Schweizer (lacht). Ich möchte starke Gefühle ausdrücken im Kino. Und ich will dem Publikum die Chance geben, selbst zu entscheiden, ob das, was ich zeige, echt ist oder ein Fake. Solche Szenen können gut oder schlecht für den Film sein, das weiß ich, denn es geht mir ja um Kontroverse. Aber ich bin glücklich, wenn ich vom Publikum heftige Reaktionen erhalte. Dafür wurde das Kino doch erfunden! Der Blick in die Vagina gibt dem Film die Richtung vor. Denn es geht darin um den Blick ins Innere eines Körpers.

DIE FURCHE: Kümmert Sie der Vorwurf, Sie hätten einen schlechten Geschmack?

Ozon: In Wahrheit ist es mir egal. Man muss die Grenzen sprengen, immerzu. Man muss experimentieren, manchmal klappt es, manchmal nicht. Ich kümmere mich nicht um den sogenannten schlechten Geschmack. Denn manchmal hat das Leben eben keinen guten Geschmack. Noch dazu, weil ich in einem Genre arbeite, gestatte ich mir umso mehr, die Klischees eines Thrillers voll auszunutzen.

DIE FURCHE: Im Film sehen wir die stark gespaltene Persönlichkeit von Chloe. Wie realistisch ist eine solche Geschichte?

Ozon: Realismus interessiert mich überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich versuche, sehr komplexe Geschichten zu erzählen, aber logisch oder realistisch müssen sie nicht sein.

DIE FURCHE: Vieles in "Der andere Liebhaber" könnte direkt aus einem Film von Brian De Palma geborgt sein. Ein Vorbild?

Ozon: Ich habe vieles von De Palma, aber auch von Hitchcock geborgt, ja. Denn beide haben sich lange am erotischen Thriller abgearbeitet. Das Genre gehörte zu ihrer Spezialität. Wenn man also so einen Film dreht, kommt man an den beiden gar nicht vorbei. Ich mag es, innerhalb dieser Genregrenzen zu experimentieren.

DIE FURCHE: "Der andere Liebhaber" lässt viel Interpretationsspielraum für die Zuschauer. Sie haben auch schon simplere Filme gedreht, wieso die Rückkehr zum Komplexen?

Ozon: Ich glaube, der Film ist sehr geradlinig und einfach geschrieben. Es gibt am Ende eine Auflösung. Aber ich will immer einen Twist im Verborgenen haben. Mein Ziel ist es, dass jeder Zuschauer seinen eigenen Film sieht. Ich will die Freiheit bewahren, die eigene Vision des Zuschauers zu ermöglichen, anstatt ihm alles vorzukauen. Ich bin kein Regisseur, der Antworten liefert, sondern eher einer, der Fragen stellt. Es ist also am Zuschauer, einen Teil meiner Arbeit zu tun.

Der andere Liebhaber (L'amant double) F/B 2017. Regie: François Ozon. Mit Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset. Thimfilm. 97 Min.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung