"Wege des Lebens – The Roads Not Taken"
Michael Krassnitzer über den neuen, sehr beeindruckenden Film von Sally Potter.
Michael Krassnitzer über den neuen, sehr beeindruckenden Film von Sally Potter.
Er weiß nicht, wo er sich befindet; die wenigen Worte, die er vor sich hin murmelt, ergeben keinen Sinn; er hat keine Kontrolle mehr über seine Ausscheidungen: Leo leidet unter Demenz im fortgeschrittenen Stadium. Eines Morgens holt ihn seine Tochter Molly von zu Hause ab, um zwei Arzttermine zu absolvieren. Der Tag entwickelt sich desaströs für beide: Er geht im Straßengewirr New Yorks verloren, sie verliert einen wichtigen Job. Allein am Ende des Tages und des Filmes blitzt ein schöner, bewegender Moment auf. Aber man weiß: Es ist nur ein kurzer Moment. „Wege des Lebens – The Roads Not Taken“, der neue Film von Sally Potter („The Party“), erzählt von diesem einen Tag im Leben Leos – und von den ihm verbliebenen Erinnerungen, in denen er offenbar komplett versunken ist.
Das deprimierende Demenz-Drama gibt Javier Bardem und Elle Fanning die Gelegenheit zu brillieren. Des Kranken Hilflosigkeit, seine Niedergeschlagenheit, seine meist keinem äußeren Reiz entspringenden Gefühlswallungen – wer schon einmal mit Demenzkranken zu tun hatte, wird Bardems außergewöhnlicher Darstellungskunst höchste Anerkennung zollen. Aber auch Fanning vermittelt mehr als glaubwürdig die Zerrissenheit zwischen Verzweiflung und kurzen Phasen des Optimismus, aber auch das Heranreifen der bitteren Erkenntnis, dass für ihren Vater ein Leben außerhalb einer Betreuungseinrichtung nicht mehr möglich ist. Anders als der Filmtitel suggeriert, geht es in den Rückblicken keineswegs um jene Stationen des Lebensweges, an denen dieser eine ganz andere Richtung hätte nehmen können, oder um das damit verbundene Hadern mit den einst getroffenen Entscheidungen.
Jene Episoden seiner Vergangenheit, in die Leo eingekapselt ist, sind veritable Tiefpunkte seiner Existenz: das Zerbrechen seiner ersten Ehe mit Dolores (Salma Hayek), nachdem das gemeinsame Kind bei einem Verkehrsunfall getötet wurde; und einAufenthalt in Griechenland, der ein Aufbruch hätte sein sollen, während dessen Leo aber zur Kenntnis nehmen musste, dass für ihn der Zug bzw. das Schiff abgefahren ist. Jean-Paul Sartre meinte, die Hölle seien die anderen. Glaubt man diesem Film, dann drängt sich der Verdacht auf: Die Hölle liegt in uns selbst.
Michael Krassnitzer ist Journalist.