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100.000

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Die Donau scheint ihren Lauf verkehrt zu haben. Der Strom fließt jetzt von Ost nach West. Aber er führt nicht Wasser, er trägt auf seinen Wellen Menschen. Tausende und aber Tausende. Er spült sie an fremde Gestade — an die Ufer unseres Landes ...

10.000 Flüchtlinge: das war das Ergebnis eines einzigen Tages, als sich am 4. November die russischen Panzer vor Budapest in Marsch setzten. Seitdem nimmt der Strom kein Ende. Nur hoch wenige Tage, dann werden es 100.000 sein Hunderttausend Menschen auf der Flucht, hunderttausendmal Abschied von der geliebten Heimat, hunderttausendmal der entscheidende Schritt, der zwar die Freiheit bringt, aber selten mehr als nur das nackte Leben rettet.

Und Oesterreich hilft. Nicht nur der Staat und die Regierung — das ganze Volk hat in den vergangenen' Wochen eine Welle spontaner Hilfsbereitschaft erfaßt. Allein, auch die Helfer werden müde, ihre Kräfte beginnen zu erlahmen, ihre Hände^drohen zu ermatten. Wer aber nicht erlahmt und nicht ermattet, ist das Elend, das bei Tag nd Nacht in immer neuen Wellen über unsere. Grenzen hereinbricht. Die elementare Gewalt dieses Ansturms droht das in aller Eile aufgebaute System der Flüchtlingsaufnahme und -betreuung zu zerschlagen. Immer dringlicher werden daher die SOS-Rufe der österreichischen Regierung .an die freie Welt, das geprüfte ungarische Volk nicht ein zweites Mal im Stich zu lassen und Oesterreich bei seinem Samariterdienst mit aller Kraft zu unterstützen. So verständlich, und notwendig diese Appelle an die Welt sind — mögen sie doch endlich ihre Wirkung tun! —, sie dürfen nicht der Weisheit letzter Schluß sein Gewiß: schon heute kann, niemand Oesterreich nachsagen, daß es sich allein auf die Vermittlung der Hilfe beschränkt, daß es sozusagen die Nächstenliebe im Transit handhabt ....- Allein: wer einmal die Aufgabe des Samariters übernommen hat, der darfden mit knapper Not den Schlägen der Räuber Entronnenen nicht nur in die sichere Herberge geleiten, der muß vielmehr auch bereit sein, seinen eigenen Esel zu verkaufen, damit der kaum den Schrecken Entronnene nicht dem Hunger und der Verzweiflung ausgeliefert werde.

Für unser Land, das eine ähnliche Aufgabe für ein ganzes Volk auf der Flucht übernommen hat, ergeben sich nüchterne Schlußfolgerungen. Wir dürfen kaum eine Stunde länger zögern, wir müssen lieber heute als morgen mobil machen!

Oesterreichs Aufmarsch im Angesicht des Flüchtlingsstromes aus dem Osten wird sich nicht unter dem Gedröhn von Flugzeugmotoren und dem Gerassel der Panzerketten vollziehen. Es ist eine ganz andere Mobilisierung, der wir das Wort sprechen. Sie ist aber nicht weniger ernst zu nehmen. Es gilt unsere materiellen, aber auch geistigen Reserven bereitzustellen. Bisher haben wir sozusagen den Ueberfluß unserer eigenen Tafel verteilt. Im Angesicht der Hunderttausend, die in unser Land, gleich in eine Fluchtburg vergangener Jahrhunderte, strömen, aber heißt es, ruhig und selbstverständlich zusammenzurücken und einen Teller mehr auf den Tisch, ein Ben mehr in die Kammer zu stellen. Einen Teller nur, und ein Bett? Nein, hunderttausend Teller und hunderttausend Betten landauf, landab. Bestimmt: alle geflüchteten Ungarn können nicht in Oesterreich bleiben. Feststeht aber schon heute, daß ein nich*- geringer Teil der Flüchtlinge den Aufenthalt in Oesterreich dem in jedem anderen Land vorzieht. Hier steht die verantwortungsvolle politische Führung unseres Landes vor einer bedeutungsvollen Entscheidung. Sie kann mit dem Ausdruck größten Bedauerns den Flüchtling sobald wie möglich weiterreichen, sie kann aber auch alles daransetzen, daß auswärtige Hilfe für die der Gewalt Entronnenen nach Oesterreich herbeigeholt wird. Wir sind für den zweiten Weg.

Generälmobilisierung der österreichischen Kraft für den Dienst am Nachbarvolk heißt zunächst nicht kleinlich und nicht wehleidig sein, wenn da eine Schule vorübergehend als Auffanglager angefordert wird, wenn dort auf einige Zeit die Verknappung bestimmter Waren oder Rohprodukte eintreten sollte. Niemand darf und wird es schrecken, wenn das Klappern der Sammelbüchsen Monat für Monat sich wiederholt oder wenn, ähnlich wie in der Deutschen Bundesrepublik das „Notopfer Berlin“, ein ,.Notopfer LIngarn“ in Oesterreich eingehoben wird. Keine Aengstlichkeit, daß die Fremden den Bürgern unseres Landes eine Scheibe Brot wegessen könnten. In nüchternen Worten: Erleichterte Eingliederung in den Arbeitsprozeß, vor allem dort, wo offenei Mangel (Landarbeiter und Hausgehilfinnen) besteht. Im Oesterreichischen Gewerkschaftsbund scheint man das Gebot der Stunde zu verstehen. Es ist zu hoffen, daß es im gewerkschaftlichen Alltag nicht in Vergessenheit gerät — auch wenn es dabei zunächst nicht immer nach dem Buchstaben des Sozialrechtes und des Kollektivvertrages zugehen mag.

Generalmobilisierung der österreichischen Kräfte für die Aufgaben der Stunde heißt aber auch Konzentration aller privaten und staatlichen Hilfstätigkeit. Konzentration, wie gesagt, nicht Bürokratisierung Dennoch scheint auf kurz oder lang die Schaffung eines eigenen Staatssekretariates für die Bewältigung der vielfältigen dringenden Agenden, die mit dem Zustrom den Hunderttausend sich ergeben und die nur in loyaler Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft zu lösen sind, geboten.

Alle materielle Hilfe aber bleibt Stückwerk, wenn ihr nicht die geistig-seelische folgt. Besser noch: wenn sie nicht mit ihr Schritt hält. Nicht wenige verantwortungsbewußte Ungarn peinigt in diesen Tagen zu allem anderen eine große Sorge. Die Auswanderung der Flüchtlinge in die Neue Welt und nach Australien — in neunzig von hundert Fällen ist solch ein Abschied ohne Wiederkehr — könnte ihr dezimiertes Volkstum obendrein schwächen. Oesterreich sollte sich nicht zuletzt zum Fürsprecher dieser Sorgen machen und für ein Verbleiben in Europa plädieren.

Aber auch hierzulande könnte einiges getan werden, um die besten Elemente des geflüchteten Nachbarvolkes aus der geistigen Depression und Verzweiflung der Stunde herauszuführen.

Die Stunde ist entscheidend. Nicht nur für die Zukunft unseres Nachbarvolkes, sondern auch für unsere eigene. Oesterreich als eine ,.Schweiz des Ostens“ geistig neu zu gründen, war am Beginn dieses Jahrhunderts der Traum der besten Geister aus den Reihen der Donauvölker. Damals war es eine Schimäre, die am Nationalismus scheiterte. Heute sind unserer Alpen-und Donaurepublik bereits die Aufgaben der „Urkantone“ einer solchen zweiten Schweiz gestellt. Von ihrer Bewältigung hängt nicht zuletzt ab, ob der Traum der Großväter in der harten Welt der Enkel nicht doch eines Tages Wirklichkeit wird.

V ictor Kienböck, Finanzminister a. D., Präsident der Oesterreichischen Nationalbank, ist vor Mitternacht des 23. November im Wiener Sanatorium der Confraternität den Folgen eines unglücklichen Sturzes erlegen, durch den er sich im Juli während seines Sommerurlaubs bei Groß-Gmain, Salzburg, einen Schenkelhalsbruch und monatelange, die Kräfte des Vierundachtzigjährigen zermürbende folge-erscheinungen zugezogen hatte. Dem sterbenden alten Freunde, der wiederholt auf seinem Krankenlager die heiligen Sakramente empfangen hatte, erwies Kanonikus Jakob Fried den priesterlichen Beistand. Die feierliche Einsegnung des Toten vollzog am Mittwoch, den 28. November, um 15.30 Uhr Erzbischof Doktor Franz König in der Votivkirche -in Anwesenheit einer großen Trauergemeinde; am gleichen Nachmittag erfolgte, die Beisetzung in der Familiengruft am Dornbacher Friedhof.

Ein aufrechter Katholik und ein edler Oesterreicher von internationalem Rang und Ruf ist von uns gegangen. Victor Kienböcks Werk gehört der Geschichte des österreichischen Staates und der europäischen Volkswirtschaft an. Seine Gestalt steht an der Zeitenwende zwischen der bürgerlichen und der Welt der unheimlichen Ausgeburten der Uranbergwerke. Von seinem Vater, dem angesehenen Wiener Rechtsanwalt, in dessen Kanzlei in der Kupferschmiedgasse des 1. Bezirkes einst der junge Advokaturkonzipient Dr. Karl Lueger saß, erbte er wohl die Schärfe des juristischen Denkens. Im Schottengymnasium, dieser strengen Pflegestätte humanistischer Bildung und Wiener Kulturtradition, wurde er Vorzugsschüler; der spätere große Physiker der Prager deutschen Universität, Doktor Armin Tschermak von Seysenegg, der Jurist Robert Harting, der einmal Justizminister in dem Prager Kabinett Benesch werden sollte, Guido Hößlinger, der Begründer und erste Präsident der österreichischen Bundesländer-Versicherungsanstalten — auch sie alle Schottenschüler wie Kienböck —, und dazu.noch einige aus der kleinen Schar katholischer Hochschüler und junger. Künstler formten damals, gegenseitig sich ergänzend, einen Kre;s junger, tatbereiter, den sozialen politischen Problemen des anbrechenden 20. Jahrhunderts zugewandter Menschen. Was war das doch für eine Studentengemeinde, die im Keller der Gastwirtschaft Mitzko am Schottentor ihre Sprechabende hielt, sich die Köpfe zerbrach über Bodenreform. Wohnungspolitik. Allgemeines Wahlrecht und Demokratie! Ihre Anführer, ohne dazu gewählt zu sein, waren Kienböck und der geistreiche, von brennendem Aktivismus geleitete Jurist Hößlinger. Frühzeitig fand Victor Kienböck hin zu der christlichen Pressebewegung, bald ein kräftiger Mitarbeiter der Christlich-sozialen Arbeiterzeitung, in enger Fühlung mit Leopold Kunschak, dem Leiter des Presseausschusses, in dem Kienböck das Finanzreferat führte. Im Jahre 1900 trat er in das sogenannte Herausgeberkonsortium der „Reichspost“ ein, dessen Vorsitzender der Soziologe Theologieprofessor, Dr. Franz Schindler war. Hier traf Kienböck auch mit Dr. Albert Geß-mann zusammen, dem Generalstabschef der Christlich-Sozialen Partei, eine Verbindung, die Kienböck mitten hinein, führte in das brausende Leben der jungen christlich-sozialen Reformbewegung, deren Führer eben daran waren, in Wien ihre großen kommunalpolitischen Schöpfungen auszubauen. Ein gewandter Redner, lebenskundig, selbstlos, begabt mit wienerischem Charme, gewann sich Victor Kienböck die Herzen der Menschen. Sie riefen ihn. 1918 begann er, in den Wiener Gemeinderat gewählt, seine öffentliche Laufbahn, und kurze Zeit darauf, am 24. August 1919, als Stadtrat in die Verwaltung der Hauptstadt entsandt. Als am ,17. Oktober 1920 die Christlich-Sozialen mit 83 Mandaten gegenüber 66 Sozialdemokraten die Mehrheit gewannen, war unter den neuen Abgeordneten auch Dr. Victor Kienböck. Drei Monate später stand für die Bundesversammlung die Wahl des Bundespräsidenten auf der Tagesordnung. Charakteristisch für die Geltung, die sich Kienböck zu dieser Zeit bereits erworben hatte, war, daß er als jüngster Parlamentarier, in vier Wahlgängen von 103 Stimmen für,die Bundespräsidentschaft ausersehen wurde, indessen auf Karl Seitz 85, auf den Großdeutschen Dinghof er 30 entfallen waren. Aus irgendwelchen Gründen widerstrebten die Großdeutschen einer Wahl Dr. Kienböcks, so daß Leopold Kunschak als einzigen Ausweg in dieser Lage die Erwählung des parteilosen Sozialwirtschafters Dr. Michael Hainisch ersah, der damit, zur großen Ueberraschung der Oeffentlichkeit, züni Buhdespräsidenten erhoben wurde. Eine seltsame Fügung: Jene, die am 9. Dezember 1920 dem Abgeordneten Dr. Victor Kienböck den Weg zur Bundespräsidentenschaft versperrten, konnten nicht ahnen, daß sie ihm damit den Aufstieg zu seiner historischen Rolle in dem Genfer Werk zur Ordnung der österreichischen Währung und zu einer Rettung des Staatshaushalte^ aus schwerster Bedrängnis freimachten. In vier Kabinetten Seipels, als buchstäblich um die Existenz des Staates gekämpft werden mußte, stand Victor Kienböck an der Seite Seipels, der geniale Teilhaber an dem großen Sanierungswerke des Bundeskanzlers. Damals wurde das Wort von dem „Seipel-Kien-böck-Kreis“ in verschiedenen Variationen geprägt, willentliche oder auch unwillige Anerkennung der Kraft, die dieses Duumvirat der beiden Männer bedeutete. Es wirkte über den politischen Raum hinaus. Als 1925 von hoher kirchlicher Stelle die Berufung Seipels als Bischof•'Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge für die Seckauer Diözese in Erwägung stand, veranlaßte Kardinal-Erzbischof Doktor Piffl, daß Dr. Kienböck und der Chefredakteur der ,sReichspost“ bei Seipel vorstellig wurden, um ihre Befürchtungen über die Folgen seines Ausscheidens aus der Staatsführung darzulegen. Mitliefern Ernste nahm Seipel die Vorstellungen der Freunde entgegen. Doch er erwiderte, als Angehöriger des geistlichen Standes müsse er- einen solchen Auftrag von kirchlicher autoritativer Seite als Weisung zur Pflicht erachten. Mit ganzer Ueberzeugungskraft erwiderte Dr. Kienböck, das Gewicht des vorgebrachten Arguments ermessend, aus seiner meisterlichen Kenntnis der aktuellen staatswirtschaftlichen Situation, die Gefahr: Stürze man mit dem glücklich begonnenen Wiederaufbau in die Lage von 1922 zurück, so gäbe es schwerlich ein zweites Mal eine Erlösung aus der Katastrophe. In einem ergreifenden Ringen mit sich selbst entschied schließlich Seipel: „Ich werde bleiben!“

In engem Rahmen ist diese Skizze zu kurz und zu aphoristisch, um ein ganzes Bild von der Persönlichkeit Victor Kienböcks zu geben. Welch ein. reiches Leben* welch ein Wirken und Vollbringen in schwerster Zeit! Viel Bleibendes, Unvergeßliches läßt Victor Kienböck zurück, nicht zuletzt im Hause des „Herold“, an dessen Entstehen, Werden und Sein er hohen Anteil hatte. Durch 5-6 Jahre, gehörte er unserem Hause in dessen wechselnden Phasen an, zuletzt als der Aelteste aus der Gründerzeit. So pflichtenreich die Aemter waren, die er in Staat und Volkswirtschaft zuletzt als der geistige Bauherr der Oesterreichischen Nationalbank bekleidete - immer hatte er Zeit für Rat und Mittun für dieses Haus und seine Obliegenheiten.

Uns bleibt sein Beispiel, das über seinen Tod hinaus verpflichtet.

Der Allmächtige wird es ihm lohnen.

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