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1938: Schicksal oder Schuld?

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Oesterreichs Sendung im Donauraum. Von Eduard Ludwig. Die letzten Dezennien österreichischer Innen- und Außenpolitik. Druck und Verlag der Oesterreichischen Staatsdruckerei, Wien. 356 Seiten. Preis 60 S

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Oesterreichs Sendung im Donauraum. Von Eduard Ludwig. Die letzten Dezennien österreichischer Innen- und Außenpolitik. Druck und Verlag der Oesterreichischen Staatsdruckerei, Wien. 356 Seiten. Preis 60 S

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Der Titel des vorliegenden Buches findet in einem kurzen Einleitungskapitel „Geschichtlicher Rückgriff" seine Begründung, der übrige Inhalt mündet in diese große Sinngebung des Buches nicht ein. Aber der Verfasser, der in seiner Amtsstellung oft hinter die Kulissen des politischen Geschehens schauen durfte, entschädigt für diesen Ausfall durch seinen Bericht über viele bekannte und auch unbekannte, keineswegs belanglose Tatsachen, angefangen von den letzten Jahren der Monarchie bis zu Bundeskanzler Raab. Dieser weite Rahmen stellt dem Verfasser von vornherein die Aufgabe schwieriger Zeitraffungen. Mit Liebe verweilt Ludwig bei der Darstellung des Zeit- abschnittes, der durch den Namen Ignaz Seipel gekennzeichnet ist; Gegensätze, die sich aus der natürlichen Verschiedenheit zweier Menschen ergaben, Gegensätze, die nicht selten in dem Verhältnis des gewesenen Wiener Polizeipräsidenten Hans Schober gegenüber Seipel hervortraten, werden von Ludwig in interessanter Weise analysiert. Er hat gewiß recht, wenn er Schober den Hauptteil der Schuld an der Entzweiung dieser beiden bedeutenden Menschen zumißt.

Zu den besten Partien des Buches gehört die Einschätzung von Ursache und von Wirkung des stürmischen 15. Juli 1927. Die gegen Seipel gerichtete leidenschaftliche Vergeltungsaktion der damaligen von sozialdemokratischer Seite eingeleiteten Abfallspropaganda hat Seipel, wie Ludwig schildert, seelisch-.sehr empfindlich getroffen. Verzweifelnd an dem sozialdemokratischen Partner der Innenpolitik, beginnt von da ab Seipels Interesse für die Heimwehr, doch trotz allem verläßt ihn nicht die Hoffnung auf einen friedlichen Austrag; an einen gewaltsamen Umsturz hat Seipel in keiner Lage gedacht. An der damaligen tragischen Entwicklung zeigt der Verfasser Otto Bauers geistige Bedeutung, aber auch dessen verhängnisvollen Hang zur streitbaren Verneinung und Rechthaberei. Ludwigs Urteil deckt sich durchaus mit dem Dr. Karl Renners. Auch der letzte Versuch einer Konzentrationsregierung unter Seipel wird am 19. Juni 1930 unter solchen Umständen vereitelt. Noch einmal erwies sich im Mai 1932 bei der Bildung der Regierung Dollfuß das Unvermögen Dr. Bauers, sich zu einer staatspolitischen Haltung zu erheben. Auch nicht in einem Augenblick, da der Hitlerismus bereits drohend vor den Toren stand.

Bei der positiven Einstellung Ludwigs zum österreichischen Staatsgedanken und zur Person Seipels wird es rätselhaft, warum der Verfasser in seltsamen Umschreibungen immer wieder seine Spitze gegen eine angebliche, von ihm nicht definierte „katholische Politik" kehrt. Schon in der Monarchie ersieht er „Nachteile katholischer Politik“, ohne verständlich zu machen, was er damit meint. Zwar behandelt er mit Sympathie die Persönlichkeit des Kanzlers Dollfuß, aber dessen Orientierung nach der Enzyklika Quadragesimo Anno versteht er nicht und verurteilt sie. Er findet auch kein Verhältnis zu der Stellung des Kanzlers zu den Christlichsozialen. Daß am 12. Februar 1934 an Stelle eines Heimwehrmannes Richard Schmitz in das Wiener Rathaus einzieht, scheint er beinahe zu bedauern. Auffallend dann der Abschnitt über Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg. Diesen als Bannerträger der deutschen Idee zu bezeichnen und gar zu behaupten, daß seine Tätigkeit zum Niederbruche Oesterreichs und zur Okkupation des Staates durch das Dritte Reich führte, geht über die erlaubten Grenzen subjektiver Darstellung, zumal in einer der Zeitgeschichte gewid-meten Publikation, so weit hinaus, daß ernster Einspruch erhoben werden muß. Angeblich ist auch bei Schuschnigg an vielem die „formale katholische Weltanschauung" schuld und selbst Schuschniggs berühmt gewordenes Abschiedswort „Gott schütze Oesterreich" wird als „eine etwas wunderlich dünkende Verschiebung persönlicher staatsrechtlicher Verantwortung auf übernatürliche Kräfte" S. 216 umschrieben. Noch schlechter ergeht es Guido Schmidt, der angeblich als „Vertrauensmann Adolf Hitlers" in den Vorverhandlungen über das Juli-Abkommen 1936 fungiert S. 214 und vor Berchtesgaden von Kanzler Schuschnigg „eine persönliche Aussprache mit Hitler verlangt" habe. Der gegen den gewesenen Außenminister musterhaft durchgeführte große Staatsprozeß hat die Rolle dieses Mannes völlig geklärt. Die im Buchhandel erschienene gedruckte Wiedergabe des stenographischen Protokolls der Prozeßverhandlung setzt jeden instand, eigene Irrtümer oder Vorurteile mit den Tatsachen zu konfrontieren. Mindestens nach diesem Prozesse sind Behauptungen,’ wie die zitierten, animoses Gerede von den persönlich Verunglimpften. Fehl eingeschätzt wird auch Walter Adam, der berufen war, Agenden zu übernehmen, die früher Ludwig geführt hatte. Dem ehemaligen Präsidialisten des Heeresministeriums „geringe Sachkenntnis bürokratischen Lebens" vorzuwerfen, ist doch wohl ein Irrtum.

Ueber die einzelnen Phasen der deutsch-italienischen Annäherung geht Eduard Ludwig kurz hinweg. Unmöglich kann man dem geschichtlichen Ablauf gerecht werden, ohne die schicksalhafte Zeit vom Sommer 1936 bis zum März 1938, die Jahre der deutschen Aufrüstung, das Einschwenken Italiens in das deutsche Bündnis, die immer stärkere Hinneigung Ungarns und selbst Jugoslawiens zu Berlin und die Verlassenheit Oesterreichs durch die Mächte, die für den Frieden Europas hätten sorgen sollen, in Rechnung zu stellen. Den österreichischen Staatsmännern blieb nichts übrig, als Zeit zu gewinnen, um womöglich eine andere, eine europäische Konstellation zu erreichen. Sie haben ein hinhaltendes Gefecht geliefert und haben das Gefecht verloren. Sie haben aber, wehrlos und waffenlos und ohne zuverlässigen Beistand, das für ganz Europa furchtbare Ende zwei Jahre lang hinausgeschoben. Es war nicht ihre Schuld, daß die Mächte nicht Zeit fanden, es zu vermeiden. Diese Erkenntnis ist heute historisches Gemeingut.

Schade, daß die- vorliegende Darstellung, die manches Wertvolle und Gewichtige enthält, durchsetzt ist von Widersprüchen auch im Wesentlichen. Charakteristisch auf Seite 217 der überschwengliche Lobspruch auf den in früheren Kapiteln mit schwersten Bezichtigungen beladenen Dr. Schuschnigg. Man könnte glauben, verschiedene Abschnitte seien aus verschiedenen Perspektiven heraus geschrieben worden. In seinem Rücktritt vom Amt des Bundespressechefs am 1. Dezember 1936 sieht der Verfasser den entscheidenden Sieg des Nationalsozialismus über Oesterreich.

Man legt das Buch mit dem Bedauern aus der Hand, daß dem kenntnisreichen Verfasser viel Bitterkeit in die Feder floß. Vielleicht findet man dafür die rechte Deutung, wenn man sich daran erinnert, daß der Autor nach einer glänzenden und verdienstvollen Laufbahn unter der Hitler- Herrschaft als einer der Ersten nach Dachau verschleppt, für seinen österreichischen Patriotismus schwerste Verfolgungen erlitt, Erlebnisse, die der Verfasser in seinem Buche in nobler Schweigsamkeit versänkt.

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