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1960

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i960: das Jahr beginnender großer Verhandlungen. Einer Reihe von Gipfelkonferenzen. So haben es die Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Westdeutschlands kurz vor Weihnachten 1959 in Paris beschlossen und Moskau vorgeschlagen. Das Donnergrollen aus Peking, dessen Truppen Indien militärisch und propagandistisch bedrohen, zeigt, wie ernst diese Verhandlungen global verstanden werden. Es gibt ja tatsächlich kein Land und keine Stadt, die nicht von ihnen betroffen ist: Tokio und Neu-Delhi, Buenos Aires und Kairo, New York und Moskau, Wien und Berlin. Ueber den Ländern, über den Städten hängt, wie ein Riesenschwert des Damokles, die Atomglocke: Frieden soll sie einläuten, Frieden kann sie bringen.

„Die Kirche schaut wohlwollend auf jede ernste Initiative, die dazu beitragen könnte, der Menschheit neue Trauer, neue Metzeleien, neue, unberechenbare Verheerungen zu ersparen. Die Kirche betet daher zu Weihnachten für alles, was in den internationalen Beziehungen der Ausgeglichenheit der Begegnungen dient, der friedlichen Beilegung der Meinungsverschiedenheiten, der Annäherung der Völker und der gegenseitigen Zusammenarbeit.“ Die Kirche wird ihre Söhne dazu anspornen, „aktive Mitarbeit für den Frieden“ zu leisten. Diese Worte der Weihnachtsbotschaft des Papstes Johannes XXIII. haben ernste politische Gegenwartsbedeutung: die katholische Kirche ist kein Agent des kalten Krieges. Die Weltkirche trägt mit die Sorge der Welt: Sorge um den Terror, um die Unfreiheit, um „das erschrek-kende Mißverhältnis zwischen dem technischen und dem sittlichen Fortschritt der Völker und dem zügellosen Rüstungswettlauf“. Der Papst sieht den wahren Frieden dreifaltig: als „Herzensfrieden“, in der Versöhnung mit Gott, als „sozialen Frieden“, das heißt Wiederherstellung der persönlichen Würde des Menschen durch soziale Gerechtigkeit und durch wirtschaftlichen Ausgleich; und als „internationalen Frieden“, „Friede der Wahrheit“: dazu müsse der Mythos der Gewalt und des Nationalismus überwunden werden.

Diese beiden letzteren Momente verdienen, kurz näher beleuchtet zu werden. Der „Mythos der Gewalt una des Nationalismus“: er bedroht nicht nur als eine Krebsgeschwulst die „erwachenden Völker“ rund um Europa von innen her, sondern bedroht auch Europa. Nicht nur Algierfranzosen sind seine Täter und Opfer. Es muß offen ausgesprochen werden: gewisse Wünsche eines gewissen Frankreichs haben etwas Alarmierendes. Auch Eisenhower ist es nicht geglückt, de Gaulies Forderungen dem General, der unverdrossen Frankreichs „Gloire“ im Auge hat, abzuhandeln. Und wer dürfte leugnen, daß in den Reibereien um den Aufbau und die Gegnerschaft der beiden europäischen Wirtschaftsblöcke so manches im dunklen Hintergrund steht, was ebenfalls mit dem „Mythos der Gewalt Und des Nationalismus“ zu tun hat? Das freiere Europa sehe sich vor: es j?t noch nicht endgültig gefeit vor der An-JJeckung durch die überaus infektiösen Bakterien eines heißen und verblendeten Nationalismus. Oesterreich hat gerade im abgelaufenen Jahr im Bannkreis des Südtirolproblems dazu neue, alte Erfahrungen gemacht. Der Algierfranzose steckt in so manchem Europäer ... Immer noch.

Ein anderes Weltproblem, das ebenfalls unser Europa angeht, hat Eisenhower in Indien eindringlich wahrgenommen. Zum ersten Male in der Geschichte hat ein Präsident der USA, des reichsten Staates der Erde, dem großen Hunger der Milliarden direkt ins Gesicht gesehen. Das ist das größte Weltproblem — listig versuchen wir, die wir überreich beschenkt von den Gabentischen der Hochkonjunktur kommen, es uns zu verdecken durch unseren Ost-West-Konflikt. Größer ist der Hunger der Milliarden. Nicht gelöst wird dieses Weltproblem Nr. 1 durch das bisherige Farmprogramm der USA-Regierung: da zahlt der Steuerzahler täglich rund eine Million Dollar (im Jahr 350 Millionen Dollar) für die Lagerung und Verwaltung des überschüssigen Weizens. Jährlich werden dazu 375 Millionen Dollar ausgegeben für die Umwandlung von Ackerland in Wald und Weide. Bisher sind 10 Millionen Hektar Ackerland aus der Produktion gezogen worden. Bis 1963 soll — nach dem neuen 5-Punkt-FaTmprogramm — 50 Prozent mehr Anbaufläche stillgelegt werden; dafür will die Regierung 500 Millionen Dollar ausgeben. Nun, das ist keine Lösung des Weltproblems Nr. 1. Wir verweisen auf dieses amerikanische „Beispiel“ jedoch nicht, um unsere europäische Ueberheblichkeit zu stärken, sondern um dieser Fehlleitung die europäische Fehlleistung an die Seite zu stellen: das freiere Europa tut viel zuwenig für die Entwicklungsländer und zur Ueberwindung des Hungers der Milliarden. Trunksucht, Völlerei, Luxus; Maßlosigkeit des Begehrens. Gericht, Weltgericht, „Jüngstes Gericht“ über uns, unsere Völker, nicht zuletzt in Oesterreich, wird in jedem Festtagsrummel für den Sehenden sichtbar. Unbetäubt, unberauscht, ernüchtert sollen wir in das neue Jahr gehen: es fordert von jedem von uns mehr Opfer, als wir bisher zu geben bereit waren. Es fordert zuerst und zuletzt, von seinem ersten bis zum letzten Tag, den schlichten Dienst am Nächsten; der im eigenen Haus und in den Häusern der Völker wach und ohne Zutrauen auf uns wartet.

Die Weltlage wird ja durch diese Tatsache immer stärker bestimmt: die Kontinente und die Völker bilden kommunizierende Gefäße. Der Austausch der Energien, der Kräfte, der Blutkreislauf in diesen großen Körpern leidet jedoch noch an schweren Stockungen und Hemmungen. Weltfriede wird erst werden, wenn es eine wirkliche Weltwirtschaft geben wird: wenn ungehindert die Güter der Materie und des Geistes ausgetauscht und verhandelt werden können. 1960, und jedes der kommenden Jahre, ist in diesem Sinn Epoche, Schicksalszeit für uns Europäer, nicht zuletzt für uns Oesterreicher: in dieser Zeit werden wir endgültig zu einer Provinz werden, zu einem abständigen Gebiet, wenn wir nicht den Anschluß an die Zukunft gewinnen: das Vertrauen von Völkern in Afrika und Asien zunächst die — noch — auf uns schauen...

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