6647341-1958_32_03.jpg
Digital In Arbeit

24 Stunden gegen die Sonne

19451960198020002020

Der langjährige Chefredakteur des „Offenen Wortes“, Dr. Otto Kaspar, hat eine Weltreise gemacht. Kurz lokalisiert: Nördliche Halbkugel mit einigen Auslassungen. Zum Unterschied von manchen seiner Kollegen, die in letzter Zeit ebenfalls einen Asientrip unternommen haben, konzentrierte er sein Hauptinteresse weniger auf Gespräche mit Politikern, sondern suchte vielmehr aus der Begegnung mit den geistigen und religiösen Kräften den Menschen, insbesondere den asiatischen, zu erfassen. Darum haben wir Dr. Kaspar vorgeschlagen, in seinem Reisebericht, dessen dritten Teil wir heute veröffentlichen, mehr den religiösen Hintergrund zu beleuchten, der ja in der Wirklichkeit Asiens keineswegs Hintergrundkulisse, sondern Quellgrund des Lebens ist. Wer Asien verstehen will, muß seine Religionen und — nicht zuletzt — seine von der europäischen grundverschiedene Denkart kennenlernen. Dieser Akzent und die raumtechnische Beschränkung machen leider eine gewisse Skizzenhaftigkeit der Berichte unumgänglich. Der so bunt schillernde Bereich, etwa des Islams — bis Pakistan hinunter —, war in einem Kapitel zusammengedrängt. Indien, das allein sprachlich mindestens so differenziert ist wie Europa und dessen Menschen und Kultur schier unerschöpflichen Stoff für Bücher und Filme liefern, wird nun von der Frage anvisiert: Vermag der Hinduismus die einbrechende moderne Zivilisation zu bewältigen? Und so fort. Uns scheint es aber wichtiger zu sein, einmal diese sonst zu wenig gewertetc weltanschauliche Seite der Asienberichte aufzuschlagen. Denn nicht zuletzt wird es von der inneren Kraft der asiatischen Religionen abhängen, inwieweit Asien sich dem Zugriff des Kommunismus entziehen kann. „Die Furche“

19451960198020002020

Der langjährige Chefredakteur des „Offenen Wortes“, Dr. Otto Kaspar, hat eine Weltreise gemacht. Kurz lokalisiert: Nördliche Halbkugel mit einigen Auslassungen. Zum Unterschied von manchen seiner Kollegen, die in letzter Zeit ebenfalls einen Asientrip unternommen haben, konzentrierte er sein Hauptinteresse weniger auf Gespräche mit Politikern, sondern suchte vielmehr aus der Begegnung mit den geistigen und religiösen Kräften den Menschen, insbesondere den asiatischen, zu erfassen. Darum haben wir Dr. Kaspar vorgeschlagen, in seinem Reisebericht, dessen dritten Teil wir heute veröffentlichen, mehr den religiösen Hintergrund zu beleuchten, der ja in der Wirklichkeit Asiens keineswegs Hintergrundkulisse, sondern Quellgrund des Lebens ist. Wer Asien verstehen will, muß seine Religionen und — nicht zuletzt — seine von der europäischen grundverschiedene Denkart kennenlernen. Dieser Akzent und die raumtechnische Beschränkung machen leider eine gewisse Skizzenhaftigkeit der Berichte unumgänglich. Der so bunt schillernde Bereich, etwa des Islams — bis Pakistan hinunter —, war in einem Kapitel zusammengedrängt. Indien, das allein sprachlich mindestens so differenziert ist wie Europa und dessen Menschen und Kultur schier unerschöpflichen Stoff für Bücher und Filme liefern, wird nun von der Frage anvisiert: Vermag der Hinduismus die einbrechende moderne Zivilisation zu bewältigen? Und so fort. Uns scheint es aber wichtiger zu sein, einmal diese sonst zu wenig gewertetc weltanschauliche Seite der Asienberichte aufzuschlagen. Denn nicht zuletzt wird es von der inneren Kraft der asiatischen Religionen abhängen, inwieweit Asien sich dem Zugriff des Kommunismus entziehen kann. „Die Furche“

Werbung
Werbung
Werbung

III. Dialog in 4000 Meter Höhe

Unsere Super-Constellation liegt so ruhig in der Luft über dem Golf von Bengalen, als würde sie stehen. Nur die vier Motoren dröhnen gedämpft und zitternd durch die Maschine. Also die richtige Stimmung, die letzten Eindrücke von ■ Indien zu Papier zu bringen.

Neben mir sitzt ein elegant und vornehm gekleideter Herr. Sein Turban verrät den indischen Sikh. Die Sikhs sind eine indische Sekte, die Islam und Hinduismus auf einen gleichen Nenner bringen will. Die Sikhs sind aber auch berühmte Krieger. Sie stellten die Kerntruppe in der englischen Kolonialarmee. Ihr Turban verdeckt lange Haarzöpfe. Denn sie dürfen sich nicht die Haare schneiden lassen. Folglich tragen sie auch einen dichten Bart.

Junge Sikhs habe ich oft auf katholischen indischen High-Schools gesehen. Ihre Lehrer klassifizieren sie als überdurchschnittlich.

Während ich noch aus meiner Wissenskiste, die in Indien etwas voller geworden war, alles über die Sikhs herauskrame, höre ich plötzlich meinen Nachbar: „Sie sind Journalist?“

Verwundert sehe ich ihn an: „Ja, weshalb ... ?“

„Indien wird jetzt von Journalisten gerne bereist. Man schreibt viel in aller Welt über unser Land. Waren Sie bei einem Kongreß?“

„Nein, ich besuchte Lepralager und Missions-ftHiflWn.“ j W tsb Miu&Ü nsdaift.. nsb

„Ach.0.“r ,., tsdrt jiiwiuü fodfttiiftn

Pause.

„Welche Missionen?“

„Katholische.“

Pause.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, was die Christen in Indien eigentlich wollen?“

Wie solle ich einem Sikh das einfach klarmachen? Mir fällt im Augenblick nichts anderes ein als: „Das Wort Gottes predigen.“

„Aber sehen Sie nicht, daß das indische Volk ohnedies tief religiös ist?“

Ich weiß nicht, worauf er hinaus will. Immerhin bejahe ich.

„Und daß es letztlich gleichgültig ist, auf welchem Weg der Mensch zu Gott kommt? Die einen über Mohammed, die anderen über Christus, andere über Buddha und wieder andere über den Hinduismus? Sollte nicht jeder zuerst einmal in seinem Bereich dazuschauen, daß die Menschen daran wirklich glauben und das auch leben, was sie in ihrer Religion bekennen?“

Die Betonung auf dem letzten Satz läßt mich vermuten, daß mein Partner auf europäische Erfahrungen anspielt. Doch ich will einen Punkt der Verständigung finden.

Es wäre vieles zu erklären. Warum der Christ „in alle Welt“ gehen und Christus dort verkünden muß. Und das wäre das Wesentliche. Ich habe aber vor mir einen typisch indischen Vertreter der weltanschaulichen Toleranz, oder besser gesagt Indifferenz. Sie findet übrigens zunehmend in Europa Anhänger. (Allerdings aus viel oberflächlicheren Gründen.)

Ihre These kann man ungefähr so skizzieren:

Gott ist Geist. Gott ist Bewußtsein. Alle Welt ist aus Ihm entstanden. Und alle Welt ist zugleich Er selbst. Aber von zweiter Qualität. Denn sie ist mit der Materie verquickt. Darum muß der Mensch sich durch Meditation oder Askese oder durch beides seiner selbst entäußern. Und eins mit der pantheistischen Gottheit werden.

Diesen Grundzug habe ich auch in den volkstümlicheren Kulten des Hinduismus gefunden. Was mir in die Augen gesprungen ist, war stets dasselbe: Weg von dieser Welt! Sie ist nicht das Wahre, das Wirkliche I Der Inder lebt also schon auf Erden im und vom Jenseits.

„Meinen Sie nicht“ - knüpfe ich wieder an—, „daß es für die Zukunft dennoch notwendig ist, daß Missionare, christliche Schulen und christliche Zellen in Indien existieren?“

„Die Statistik spricht gegen Sie. Bitte: 3 80 Millionen Menschen leben in Indien. Etwa vier Millionen sind katholisch. Ebenso viele dürften protestantisch sein. Die anderen aber sind fast durchweg Hindus. Und jährlich kommen in Indien ein paar Millionen Menschen neu hinzu. Erdrückend mehr Hindus als Christen. Und da wollen Sie von einer .Zukunft' sprechen? Die Christen werden zu einer verschwindenden Sekte, auch wenn sie noch so viele taufen.“

„Mit der .Zukunft' meinte ich etwas anderes. Sie haben doch, ich vermute es wenigstens, in England studiert?“

„Ja. Ich bin Ingenieur.“

„Um so besser. Also arbeiten Sie dafür, daß das nach Indien, und zwar so rasch als möglich, kommt, was wir mit .zivilisatorischem Fortschritt' bezeichnen.“

„Stimmt. Ich bin schließlich leitender Ingenieur bei den T.-Werken.“

„Wissen Sie aber, daß das, was Sie da als .Fortschritt' importieren wollen, seine Wurzel auch im christlichen Denken hat?“

„Wieso?“

„Ich kann hier nicht so ausführlich werden. Aber ich sehe vor allem zwei Wurzeln. Die eine:

Der Christ betrachtet die Welt, in der er lebt, nicht als etwas Perfektes, zu dem er ja und amen zu sagen hätte. Schließlich bringt jeder Tag etwas Neues. Neue Probleme, neue Aufgaben. Der Christ nimmt vielmehr die Welt als — wir nennen das so — als Auftrag Gottes an, an der Vollendung und Entfaltung der Welt mitzuwirken. Höchst aktiv und höchst agil. Egal, ob mit Preßhammer in einem Bergwerk oder als betender Mönch in einer Klause. Ein Flüchten vor dieser Aufgabe gibt es nicht. Wer das macht, soll sich besser nicht als Christen bezeichnen.“

„Und die andere Wurzel?“

„Es gab unter den Protestanten eine Gruppe, die überzeugt war: Wir sind die von Gott Auserwählten. Dafür müssen wir aber einen Beweis bekommen und einen Beweis liefern. Dieser Beweis liegt darin, daß wir im Leben Erfolg haben. Der wirtschaftliche und berufliche Erfolg ist also ihre Einlaßkarte in den Himmel geworden. Daß es heute Leute gibt, die Gott im Kühlschrank kaltgestellt und den .Erfolg' einfach an seine Stelle gesetzt haben, ist ein anderes Kapitel.

Besonders diese zweite Gruppe ist ein entscheidender Motor für den sogenannten Kapitalismus — im weitesten Sinn — geworden. Und dieser Kapitalismus hat den .Fortschritt' der Technik bis hinauf zur heutigen Atombeherrschung angekurbelt. Was sonst allerdings mitkurbelte, fällt in die Kategorie der Himmelsstürmer, denen kein Raum heilig oder hoch genug schien, daß sie ihn nicht mit ihrem trockenen Verstand erobern zu können glaubten.“

„Schön, aber Technik und Fortschritt sind heute so sehr von diesen christlichen Wurzeln, die Sie da erwähnen, abgelöst, daß ich nicht verstehen kann, wie Sie das mit den Missionen in Indien in Verbindung bringen?“

„Nicht direkt natürlich. Aber ich habe selbst in Indien mit Männern, etwa des .Community Project', gesprochen. Sie arbeiten — wie Sie wissen — an der Modernisierung der Landwirtschaft. Und worin sehen diese Männer das

Hauptproblem? Den Leuten beizubringen, etwas zu .erhalten'; sie zu lehren, Häuser, Wege und Maschinen nicht gleich wieder verfallen zu lassen.“

„Ich verstehe Sie nicht recht.“

„Ja, ich meine damit — auch zur modernen Technik, zur modernen Betriebsführung, gehört eine bestimmte Geisteshaltung. Ich muß, wenn ich etwas besser machen will — und das ist doch der Sinn der modernen Technik: dem Menschen zu helfen —, es auch besser machen wollen. Wenn mir aber alles, was hier auf der Welt geschieht, gleichgültig ist, weil mich nur das, was jenseits der Welt liegt, interessiert, dann kann ich kein Interesse haben, mich für das

Leben meiner Mitmenschen oder für bessere Betriebs- oder Arbeitsverhältnisse einzusetzen. Noch dazu, wenn ich glaube, daß ich in einem späteren Leben in eine bessere .Haut' hineingeboren werde. Unter der Voraussetzung, daß ich das jetzige Leben mit Eselsgeduld und passiv über mich ergehen lasse...“

„Sie reiten Attacke. Man merkt Ihnen jedenfalls an, daß Sie mit dem indischen Denken nicht gut zu Rande gekommen sind. Das alte Problem! Ich glaube Sie aber zu verstehen.“

„Ich will Ihnen ja nur von meinem Gesichtspunkt aus erklären, warum ich in der Zukunft eine große Chance für Christus in Indien sehe. Sie werden dann moderne Traktoren, riesige Bulldozer, Stahlkonzerne, Turbokraftwerke haben. Sie werden investieren, exportieren — exportieren müssen. Wie wollen Sie das aber alles, wenn die indischen Menschen daran total desinteressiert sind? Ja, desinteressiert sein müssen, wenn sie gläubige Hindus sein wollen?“

„Sie glauben, wenn ich Sie recht verstehe, daß es zu einer Krise des Hinduismus kommen muß, wenn die moderne europäische und amerikanische Zivilisation — für uns und technisch gesehen, nun einmal eine Notwendigkeit — Indien überschwemmt?“

„Ja, das glaube ichl“

„Unterschätzen Sie die Religiosität des indischen Volkes nicht!“

„Tue ich nicht. Im Gegenteil. Aber ich bin gelernter Europäer und habe besten .christlichen' Anschauungsunterricht genossen. Wissen Sie, wie oft Christus bei uns zur Seite geschoben wird, nur weil Er einer Limousine, einer Italienreise oder einer amerikanischen Küche im Weg steht? Was ich befürchte, ist vielmehr: Der sogenannte .Fortschritt' kommt heute auf den Flügeln des Materialismus. Und dieser Vogel vermag den Fortschrittsverzauberten zwar nicht die eingeborene Sehnsucht nach dem wahren Leben in Gottes Nähe, also im Jenseits, herauszupicken. Aber er flattert ihnen dafür ein irdisches Paradies vor, in das er sie bringen will.“

„Spielen Sie auf den Kommunismus an?“

„Ja und nein. Nein, weil Materialismus nicht allein die Hausmarke des Kommunismus ist. Ja, weil ein Volk, das durch die Zivilisation an seinem uralten Glauben irre wird, sich leicht — einmal steuerlos — auch total umlenken läßt. Noch dazu, wenn der Kommunismus die Jenseitsgläubigkeit in eine Diesseitshoffnung auf ein irdisches Paradies umfälscht.“

' “ “ . ■ '• ) sffl us biodbiftstiT

„Es liefe also Ihrer Meinung nach auf einen Zweikampf zwischen Christentum und Kommunismus hinaus?“

„Ja, denn diese beiden Mächte, von denen paradoxerweise der Kommunismus geistig und kulturell aus dem bisherigen Hauptoperationsgebiet des Christentums kommt, stehen beide positiv zu Zivilisation und Fortschritt. Nur mit verkehrtem Vorzeichen. Wenn also das indische Volk in einer Krisenzeit nach Hilfe sucht, werden sich beide Mächte anbieten:

der Kommunismus, indem er auf Erden eine ,Ordnung' machen will, die kein Jenseits kennt; das Christentum aber, indem es über Kimme und Korn seiner irdischen Ordnung direkt das Jenseits anvisiert.“

„Also dann wäre ja das Starren aufs Jenseits — von dem Sie vorher kritisch sprachen — gar nicht so schlecht?“

„Das .Starren' ist nicht gut, wenn inzwischen alles rundum zugrunde geht. Aber lassen Sie mich unterstreichen: Es wird nicht nur das Christentum in diesem Falle der Gebende sein.“

„Wieso?“

„Ich bin fest überzeugt — und Missionare bestätigen mir das —, daß das Christentum aus der indischen Spiritualität ungeahnte Bereicherung erfahren wird. Denn allzuviel ist bei unserem abendländischen Christentum vom Herzen in das Hirn gerutscht. Und wir sind leider oft viel mehr mit der Erde als mit dem Himmel beschäftigt. So sehr, daß wir manchmal vergessen, daß — hier nehme ich ein Bild aus Ihrer indischen Religion — die .höhere' Wahrheit nicht auf der Erde liegt.“

„Möglich, daß Sie hier eine Ebene der Begegnung skizziert haben. Ich kann mir jedenfalls vorstellen, was Sie mit der .Zukunft für Christus' in Indien gemeint haben.“

„Bitte anschnallen!“

Die Stewardeß fordert uns mit verbindlichem Lächeln auf, die Anweisung des Flugkapitäns zu befolgen. Ich habe das Leuchtzeichen vollkommen übersehen, obwohl es in meinen Ohren bereits gehörig geknackt hat — ein Zeichen, daß wir stark an Höhe verlieren. .

„Uebrigens, noch etwas... I“ Der indische Ingenieur wendet sich wieder zu mir. „Sie sprechen immer von einer .Zukunft' für Christus in Indien. Ich möchte nicht haarspalten. Aber ich habe, wie Sie bereits wissen, in Europa studiert. Und da habe ich die .Gegenwart' kennengelernt. Allerdings keine Gegenwart von Christus.“

Die Maschine setzt zur Landung an. Hat sich dieser freundliche Inder sein schwerstes Geschütz für das Ende des Fluges aufgehoben? Als würde er meine Gedanken erraten:

„Ich ahne vielleicht, was Christus für Indien bedeuten kann. Vielleicht kann aber auch eine .Zukunft' in Indien Christus dafür entschädigen, daß Ihm heute Europa weithin nur mehr die .Vergangenheit' bietet.“

Und während die Motoren zum letzten Bremsen aufheulen, beugt sich der Sikh noch tiefer zu mir:

„Meine besten Gedanken begleiten Sie jedenfalls. Und — was ich noch sagen wollte: ich habe meine beiden Söhne auf einer katholischen High-School...“

In der nächsten Nummer: AM GUCKLOCH NACH CHINA

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung