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7 FRAGEN AN EINEN „HUMORISTEN

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Ein Gespräch mit dem holländischen Schriftsteller Godfried Bomans

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Ein Gespräch mit dem holländischen Schriftsteller Godfried Bomans

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FRAGE: Waren Sie schon früh entschlossen, Schriftsteller zu werden?

BOMANS: Schreiben ist kein Fach, das man wählt. Es ist eine Haltung im Leben.

FRAGE: Woraus besteht diese Haltung?

BOMANS: Aus zwei Elementen. Das erste ist eine immerwährende Verwunderung. Das zweite, sich von diesem Erstaunen Rechenschaft abzulegen.

FRAGE: Was ist Humor?

BOMANS: Ihre Frage ist das. Ich bin kein Automat, in den Sie einen Groschen werfen können, um dafür das belegte Brötchen einer Antwort zurückzubekommen.

FRAGE: Darf ich die Frage dann spezifizieren? Ist Humor nicht das einzige Element in der Literatur, das zeitlos ist?

BOMANS: Nein. Humor kann nur in einer Gesellschaft gedeihen, die sich im Zustand der Auflösung befindet. Haben Sie schon einmal in einem Keller einen verdorbenen Krebs gesehen? Das Tier phosphoresziert. Es geht ein gespenster- hafter Schein von ihm aus. Mit diesem Glanz hat Humor etwas zu tun. Eine konsolidierte Gesellschaft, bei der alle Normen noch aufrecht stehen, kennt den Humor nicht. Sie kennt die Heiterkeit. Für Humor ist sie jedoch zu derb. Erst wenn der Glaube an bestimmte Werte unterhöhlt ist, entsteht das Gefühl für Relativität, das Humor möglich macht. Er ist eine Blume, die auf dem Misthaufen des Verfalles blüht. Eine gesunde Gesellschaft sieht sich selbst nicht. Ihr fehlt das Vermögen zur inneren Einkehr. Erst wenn sie sich zum Narren hält, entsteht Humor. Ironie jedoch ist zugleich der letzte Glanz, den eine Kultur noch abgibt. Nach diesem Schimmer wird es dunkel.

FRAGE: Fürchten Sie sich vor dem Tod?

BOMANS: Darüber ließe sich viel sagen. Wir haben den Tod versteckt. Früher schaute man ihm offen und ehrlich ins Angesicht. Er stand zwar mitten auf dem Weg, aber hinter seinem Rücken führte dieser Weg weiter. Er war wie ein Zollbeamter. Er fragte, ob man etwas abzugeben habe. Danach durfte man weiter. Die Reise war nicht abgelaufen. Sie fing erst an. Heutzutage ist der Verkehr umgeleitet. Der Tod wird so lange wie möglich versteckt, weil dahinter ein Abgrund gähnt. Ich habe meine Großmutter, als ihre Schwester starb, noch sagen hören: „Sie ist aus der Zeit.“ Wie tief ist dieses Wort, und wie sehr hätte es Einstein genossen! Man ist „aus der Zeit“, man geht über in ein Kontinuum, in dem die Zeit als solche aufgehoben ist. Dieses Bewußtsein ist uns entfallen. Das „Altersproblem“, über das wir so viel reden, ist nicht, daß es keine Häuser für diese Menschen gibt, sondern, daß ihnen ihre zukünftige Wohnung genommen ist. Früher antichambrierte man für seine eigentliche Bestimmung, aber diese Tür ist zu. Wir stehen allesamt auf der Straße.

FRAGE: Sie wären also dafür, daß unsere Lebensanschauung wieder transzendenter fundiert wird?

BOMANS: Hier irren Sie sich. Ich konstatiere nur. Wenn mich das Leben eins gelehrt hat, so dies, daß jedes Heimweh nach der Vergangenheit nur den Blick in die Zukunft verdüstert. Wenn das alte religiöse Bewußtsein eine alte Jacke geworden ist, die uns nicht mehr paßt, dann werfen wir sie weg. Ich stelle nur fest, und zwar das: daß die Dinge um uns herum nur sich selbst bedeuten. Der doppelte Boden ist herausgefallen. Das kann das Ende sein. Viele Menschen denken es. Es kann auch bedeuten, daß ein neuer Boden in Entstehung ist. Sie erinnern sich vielleicht des Gesetzes von Le Chatelier, das lautet: „Wird bei einer bestimmten Zusammensetzung die Temperatur oder der Druck verändert, dann tritt augenblicklich die Reaktion in Kraft, die der ursprünglich angebrachten Veränderung entgegenwirkt.“ Wenn man also etwas zusammenpreßt, entwickelt sich Wärme, die den Gegenstand Wieder ausdehnt. Und wenn die Welt um uns stets kälter wird, dann mobilisiert sich eine Gegenkraft, die uns wieder in die Mystik treibt.

FRAGE: Welches ist diese Kraft?

BOMANS: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß das Pendel durch den Tiefpunkt des Materialismus hindurchgeschlagen ist und die Erscheinungen um uns von Tag zu Tag geheimnisvoller werden. Wir wissen nicht einmal mehr, was Materie ist. Noch vor kurzem hatten wir von einem

Stück Holz eine ziemlich brauchbare Vorstellung, weil wir den Bau eines Atoms wie ein Miniatursonnensystem glaubten auffassen zu dürfen. Diese Arbeitshypothese ist vollkommen verdampft. Statt dessen kamen Wellen, und diese Energie verhält sich nicht dreidimensional. Was wir früher Materie nannten, scheint eine beinahe vollkommene Leere zu sein, in der sich dennoch unvorstellbare Kräfte offenbaren, die jegliche Begriffe von Zeit und Raum übersteigen.

Und so wie sich der Mikrokosmos immer mehr vernebelt, so verschleiert sich auch das Weltall über unseren Köpfen. Je weiter die Wissenschaft vordringt, je rätselhafter wird die Welt. Wer die Untersuchungen von Whitehead, Hoyle, Russell: und ĘddiiiKthn verfölgt, wähnt sich in einer.neuen Mystik. Der Ton dieser Gelehrten -wird., dann auch stets behuts tner, ls träten sie in eineh- Tempel ein.'iß überkommt die Welt ein Schauder. Was daraus geboren wird, läßt sich nicht sagen. Vermutlich eine neue Motion des Unkörperlichen, das sich noch nicht zu einem Schema ent wickelt hat. Wir stehen am Rand großer Konzeptionen. Es gibt niemanden, der der Avantgarde des menschlichen Den kens ein bißchen folgt, der nicht zittert vor Erwartung.

FRAGE: Rechnen Sie die Raumfahrt dazu?

BOMANS: Die Raumfahrt ist keine Konzeption. Sie ist die praktische Anwendung des Antriebs durch Stoßkraft. Es kann sein, daß wir dort nichts zu suchen haben. Ich glaube inzwischen, daß die Raumfahrt die Antwort ist, nach der Malthus sein ganzes Leben gesucht hat. Wenn auch die dafür aufgewendeten Millionen keinen Erfolg zeitigen sollten, sie verändern unser Weltbild. Die reine Tatsache, daß wir der Erde entsteigen und sie wie eine Murmel unter uns sehen, verursacht in den Gedanken der Menschen eine Mutation, die sich bis dato noch nicht gezeigt hat: Wir fühlen uns zum erstėfimal in der Geschichte als Menschheit. Diese Sprung variation ist neu. Ich glaube, daß die Raumfahrt mehr zur Abschwächung des nationalen Bewußtseins und örtlichen Chauvinismus beitragen wird als alles, was in dieser Richtung unternommen ist. Wir sind plötzlich Erdbewohner geworden. Meine Vorfahren standen noch auf Haarlems Stadtwällen und gossen Pech herunter, aber mein Urgroßvater zog schon 1830 nach Brüssel. Diese Verschiebung von städtischem zu nationalem Antagonismus verbreitete sich immer weiter, bis wir uns 1940 kontinental die Schädel einschlugen. In hundert Jahren gibt es nichts mehr einzuschlagen, dann sind wir überall gewesen und reichen uns über den Globus hinweg die Hand. Diese Satelliten über unseren Köpfen zwingen uns, Weltbürger zu werden.

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