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Abendkirche 1963

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Ein unvergeßlicher Abend. Schweigsam steigen wir — ein Wiener Freund und ich — den Montmartre empor. Die Vergnügungsstätten leuchten rot, grün, gelb. Überall schreiende Reklame, Musik, Tingeltangel: nur notdürftig verhüllte Verbindung von Sexualität und Kommerz.

Auf der Höhe des Berges lagern zahlreiche Paare, die unbekümmert den Abend genießen. Unmittelbar hinter ihnen wächst Sacre-Coeur empor: ein mächtiger, nicht sehr schöner Bau, aber nicht ohne Hoheit, nicht ohne Kraft, nicht ohne Gefühl; eine Manifestation religiöser Selbstbehauptung in einer anderen Welt.

Die Kirche ist dem heiligsten Herzen Jesu geweiht. Die französischen Katholiken haben sie mitten in das Babel von Paris gestellt. Eine tiefe Erschütterung erfaßt uns gleich beim ersten Blick in die Kirche. Eine Gruppe von Menschen kniet schweigend vor dem Allerheiligsten. Auf dem Altar brennen viele Kerzen; er ist mit Blumen überschüttet; Weihrauchduft erfüllt den Raum; alles ist in eine Flut von I.icht getaucht. Aber mehr als das: Die ganze Kirche ist beseelt von einer Atmosphäre des Gebets, der Glut, der Innerlichkeit.

Die Menschen, zum größten Teil Männer, Gebildete, erheben sich nach Stunden und machen anderen Platz. Und das geht so fort Nacht für Nacht, Tag für Tag.

Nur durch eine Kirchenmauer getrennt, leben das genießende und das büßende, das sündige und das sühnende, das verweltlichte und das religiöse Frankreich nebeneinander, jene „deux France“, die ein Symbol der ganzen westlichen Welt sind.

Auf diesem Vorberg der Vogesen, unweit Straßburg, liegt das alte Nationalheiiligtum der heiligen Odilia. Es ist das Ziel .vieler Wallfahret,. Jn dieserJKfrche''airr dem Berge'betet-je'de Nacht eine Handvoll Männer das ausgesetzte Allerheiligste an. Die Männer und Jungmänner lösen einander von Zeit zu Zeit ab. Ihre seelische Hingabe ist vorbildlich, ihre körperliche Haltung ohne jeden Tadel. Sie erflehen den Segen Gottes für sich, für ihre Familien, für die geliebte Heimat. Männer aller Pfarren der Diözese Straßburg beteiligen sich an diesem unaufhörlichen Gebetssturm. Ihre Bitten werden erhört. Noch ist der Glaube im Elsaß lebendig ...

Seit Jahren und Jahrzehnten lassen mich diese Bilder nicht los. Wenn ich von den Fenstern meines Pfarrhauses auf den geliebten Dom schaue, dann will mir scheinen, als stünden Dom und Welt in einem ähnlichen Gegensatz zueinander wie die „deux France“.

Gewiß, der Gegensatz zwischen dem irdischen und dem ewigen, dem weltlichen und dem geistlichen Wien springt nicht so in die Augen wie in Paris.

Aber wer hier durch mehr als fünfundzwanzig Jahre als Prediger und Pfarrer lebt und die Menschen dieser Stadt ein wenig von innen kennt, weiß, daß sich die Dinge in Wien nur durch Nuancen von denen in Paris unterscheiden. Und wer sozusagen von Berufs wegen gezwungen ist, die Qualität des Glaubens vieler Menschen zu prüfen, wird leider sagen müssen, daß die Glaubenssubstanz dieser Stadt ständig abnimmt.

An Stelle des Glaubens treten allerlei Ersatzmittel. Manche halten die Freude am religiösen Kunstgegenstand oder die Liebe zur geistlichen Musik schon für Religion; manche begnügen sich mit einer bürgerlichen Anstandsethik und halten sie für christliche Moral; wieder andere geben sich zufrieden mit einem religiösen Minimalismus und betrachten ihn als Normalmaß für den christlichen Verbraucher; und wieder andere huldigen einem feineren oder gröberen Epik-Väisitfui.^der' Vielen- Christen dieser Stadt nicht nur unter die Haut, -sondern bis ins Mark geht, Kreuz und Opfer aus dem religiösen Wörterbuch eliminiert und die Zelebration an gutgedeckter Tafel jeder geistlichen Feier vorzieht.

Dieser weitverbreiteten Verweltlichung mit ihren ästhetischen, liberalen, bürgerlichen und atheistischen Spielarten steht keine so entschiedene einsatzbereite Christenheit gegenüber wie in Frankreich.

Ich will nicht verkennen, daß es auch in Wien viele Christen gibt, die die Gnade des lebendigen Glaubens und einer echten Liebe besitzen. Es gibt auch viele Kristallisationskerne von gläubigen Christen in Pfarren, kirchlichen Organisationen und religiösen Gemeinschaften, denen das Gebet ein Herzensanliegen, das Opfer selbstverständlich, die soziale Tat eine gern erfüllte Pflicht und der apostolische Einsatz ein göttlicher Auftrag ist.

Aber wer einen wirklichen Einblick in die Wiener Verhältnisse hat, wird zugeben müssen, daß die Frauen in allen religiösen Gruppen und Vereinigungen in der Mehrzahl sind. Das ist ein Ruhmestitel für die Frauen, aber kein Ruhmestitel für die Männer. Die Männer sind zweifellos in den religiösen Gemeinschaften in der Minderheit, sie gehören meistens den höheren Altersschichten und nicht gerade häufig den gebildeten und wohlhabenden Ständen an.

Es ist verständlich, daß hier ein Gebetssturm an einem bestimmten Ort realisiert werden muß. Es ist nicht der natürliche Ehrgeiz des Pfarrers, der mich bewegt, der Stephanfkirche eine ähnliche Aufgabe zuzudenken. Es gibt keine Kirche in Österreich, die sich eines höheren Ansehens und einer größeren Liebe erfreut als der Wiener Stephansdom; keine, die so vielen eine Heimat der Seele ist; keine, die durch ihre Lage,,,in, der .Mitte, ;de,f Stadt: und durch' ihren Reicht^, a^; Hc%: <tumern und Kapellen SO geeignet wäre, dieses Gebetszentrum zu werden.

Die ersten Schritte dazu sind bereits getan. Die eisernen Gitter, die früher den Albertinischen Chor vom Langhaus trennten, wurden nach rückwärts verlegt und trennen nun die „Querkirche“ beim Gnadenaltar Maria Pötsch von der „Längskirche“. Die Kirche hat dadurch nur gewonnen; denn ungehindert durch die Gitter, die den Dom früher gerade in der Mitte zerschnitten, erfaßt der Blick nun die ganze Länge und Höhe des herrlichen Raumes. Historische Bedenken bestanden keine, da die verlegten Gitter aus dem Jahre 1936 stammen und von den Schülern einer Maschinenbauschule hergestellt wurden. Nun werden sie dazu dienen, den Raum um den Gnadenaltar Maria Pötsch bis zehn Uhr nachts abzusichern.

Das eigentliche Zentrum des Gebetes soll in die Eligius-K a-pelle verlegt werden. Dieser herrliche gotische Raum wird eben restauriert und mit einer Klimaanlage versehen. Kein anderer Ort würde sich so sehr für die Aussetzung des Allerheiligsten eignen; keiner so sehr die Sammlung der Beter garantieren; keiner so sehr die Wiener ansprechen als dieser anheimelnde kleiine Raum.

Aber die Vorbilder des Montmartre und des Odilienberges sollen nicht blind nachgeahmt werden. Wir sind eben dabei, in den beiden Erdgeschossen der Heidentürme Beicht-und Aussprachezimmer einzurichten, in denen erfahrene Priester bis in die späten Nachtstunden den suchenden, ringenden und zweifelnden Menschen mit ihrem persönlichen Rat beistehen und auf Verlangen das Sakrament der Buße spenden werden.

So zeichnet sich bereits heute eine Abendkirche ab, in der von sieben Uhr abends bis zehn Uhr nachts das Allerheiligste ausgesetzt und Gelegenheit zur religiösen Aussprache und zum Empfang des Bußsakraments geboten werden soll. Sie wird — so Gott will — am 1. Oktober 1963 eröffnet werden.

Ich glaube, daß mit der Schaffung dieser Abendkirche ein Wunsch vieler Wiener erfüllt wird. Wie wenige Menschen haben heute während des Tages Zeit, einen ruhigen Gedanken zu fassen oder sich auf ewige Dinge zu besinnen f Sie werden darum dankbar nach St. Stephan kommen, das als Haupt- und Mutterkirche der Stadt ihren aktuellen religiösen Bedürfnissen entgegenkommt.

Wir besitzen gewiß in unserer Stadt einige Anbetungskirchen, aber sie schließen ihre Tore am frühen Abend. Auch unser Programm in St. Stephan ist bescheiden. Wir denken an eine abendliche Anbetung bis zehn Uhr nachts, aber an keine nächtliche Anbetung wie am Montmartre oder am Odilienberg. Dazu fehlen uns die Kräfte d -Hilfstätrrfie, die diese beiden Kirchen besitzen.

Welch gewaltigen Auftrieb könnte das religiöse Leben der Wiener Katholiken, vor allem aber der katholischen Männer erhalten, wenn diese die abendliche Anbetung im Stephansdom zu ihrer Sache machten I Was für ein Gedanke, wenn in den drei Abendstunden von sieben bis zehn Uhr je zwei Männer und zwei Jungmänner eine Stunde vor dem Allerheiligsten knieten und gleichsam als Stellvertreter für die ganze Stadt ihr Lob und ihre Anbetung, ihren Dank und ihre Sühne, ihre Bitten und ihre Fürbitten vor den eucharistischen Herrn brächten und unaufhörlich um seine Gnade für sich, ihre Familien und ihre Heimat flehten I

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