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Abenteuer des Lebens

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Geschichte meines Lebens. Von Helen Keller. Nach der amerikanischen Neuauflage übersetzt und bearbeitet von Werner de Haas. Alfred-Scherz-Verlag, Bern. 240 Seiten. — Der Engel mit dem Schwert. Roman von Pearl S. Buck. Paul-Zsolnay- Verlag, Wien. 296 Seiten. Preis 39.50 S. — Moulin rouge. Lebensroman des Malers Toulouse-Lautrec. Von Pierre La Mure. Fischer-Bücherei, Band 185. 386 Seiten. Preis 1.90 DM. — Meine Hunde und ich. Von Hildegard Plivier. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main. 254 Seiten

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Geschichte meines Lebens. Von Helen Keller. Nach der amerikanischen Neuauflage übersetzt und bearbeitet von Werner de Haas. Alfred-Scherz-Verlag, Bern. 240 Seiten. — Der Engel mit dem Schwert. Roman von Pearl S. Buck. Paul-Zsolnay- Verlag, Wien. 296 Seiten. Preis 39.50 S. — Moulin rouge. Lebensroman des Malers Toulouse-Lautrec. Von Pierre La Mure. Fischer-Bücherei, Band 185. 386 Seiten. Preis 1.90 DM. — Meine Hunde und ich. Von Hildegard Plivier. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main. 254 Seiten

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So verschieden die hier vorliegenden Werke sind in ihrer Ausrichtung und auch in bezug auf ihr literarisches Niveau — sie alle sind Spiegelbilder des großen Abenteuers, das das menschliche Leben in sich schließt: sei es in der Bewältigung der aufgegebenen geistigen und seelischen Probleme, sei es in der Buntheit und Fülle äußerer Geschehnisse, die aufgerollt werden.

Daß Helen Kellers „Geschichte meines Lebens“ auch wieder in einer deutschen Neuauflage zugänglich ist, wird ihre Freunde beglücken und ihr neue Bewunderer gewinnen. Denn diese ungewöhnliche Frau, die als kleines Kind infolge einer Gehirnentzündung das Seh- und Hörvermögen verlor, hat es verstanden, ein bitteres Schicksal zum Guten zu wenden und aus einer hoffnungslos scheinenden Situation ein wunderbar reiches und harmonisches Leben zu gestalten.

Im Mittelpunkt der Aufzeichnungen Helen Kellers steht ihre Begegnung mit Anne Sullivan, der das blinde und taube Mädchen mit sieben Jahren — damals war sie eine völlig verzogene kleine Wilde, der die Eltern aus Hilflosigkeit und Mitleid alles hatten durchgehen lassen — anvertraut wurde. Miß Sullivan ist es, die Helen zunächst einmal bändigt, sie Gehorsam lehrt, um ihr dann mit unendlicher Geduld die Welt — die wirkliche sowohl wie die geistige — zu erschließen. Mit Hilfe eines Fingeralphabets lernt Helen die greif- und fühlbaren Gegenstände zu benennen. Eine bewegende Episode, als Anne eines Tages frisches, kühles Wasser über die Hand ihrer Schülerin laufen läßt und ihr dabei in die andere Hand das Wort water buchstabiert.

„Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhafte, verschwommene Erinnerung, ein Blitz zurückkehrenden Denkens, und das Geheimnis der Sprache lag plötzlich offen vor mir. Ich wußte jetzt, dafl water jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand strömte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, speiidete ihr Lichta Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren. ¥ essein“, berichtet Helen darüber in ihren Lebenserinnerungen. Später lernt sie, dank Annes genialer Methode, sprechen — nicht nur ihre Muttersprache, auch Französisch, Deutsch —, bewältigt den elementaren Wissensstoff, lernt Lateinisch und Griechisch, besucht ein Gymnasium und wird Universitätsstudentin.

So großartig alle diese sachlichen Leistungen sind, wesentlicher dünkt uns, daß es Helen Keller gelang, ein ausgeglichener, zufriedener und glücklicher Mensch zu werden, der heute noch mit der gleichen Vorbehaltlosigkeit für seine blinden und tauben Schicksalsgenossen lebt, wie Anne Sullivan es einst für sie getan hat.

Die hier vorliegende Neuausgabe der „Geschichte meines Lebens“ ist noch erweitert durch Briefe Helen Kellers und Berichte ihrer Lehrerin über die Persönlichkeit und den Bildungsgang ihrer Schülerin.

Pearl S. B u c k s Roman „Der Engel mit dem Schwert“ gehört zu ihren biographischen Meisterwerken, Sie erzählt darin die Geschichte ihres Vaters, jenes unbeugsamen, von seiner Berufung besessenen Gottesstreiters, der viele Jahrzehnte als Missionär in China wirkte — unbeirrt von allen konträren Umweltbedingungen und den ihm aus den Reihen seiner weniger fanatischen christlichen Brüder erwachsenden Widerständen. Völlig verschlossen freilich auch den Aufgaben, die er gegenüber seiner Familie gehabt hätte. „Seine Kinder waren bloß Zwischenfälle, die ihm zugestoßen waren“, heißt es einmal; und an anderer Stelle: „Er war ein großer Missionär, eine unerschrockene Seele, aber Väterlichkeit war ihm fremd.“ Die leise Trauer über sittere Entbehrungen in dieser Hinsicht ist in Pearl 5. Bucks Buch nicht zu überhören. Aber sie schmälert nicht ihre Pietät, ihr außerordentliches Verständnis für den Weg und das Werk eines Mannes, dem das Leben und das Menschenherz unwichtig waren und der nicht einmal spürte, wie sehr :r über dem Eifer, Seelen zu bekehren, und über Jem Glück am Erfolg seines Werkes seine Familie larben ließ. Pearl S. Buck, die doch schmerzlich jetroffen war von diesem Versagen ihres Vaters im jrivaten Bereich, vermag ihn mit einer erstaunlichen Dbjektivität und Anteilnahme zu sehen, die für ihre Gestaltungskraft und mehr noch für ihr warmes Herz sprechen.

Pierre La Mure, ein in Nizza geborener Fran-sose, der jetzt in Amerika lebt, geht in „Moulin rouge“ dem Leben des Malers Toulouse-Lautrec nach. Der .weite Weg seines Helden aus der Atmosphäre eines betont exklusiven aristokratischen Hauses in die Welt der Studios, Bars und Cafes von Montmartre, in der Toulouse-Lautrec doch immer der Grandseigneur blieb, als der er geboren wurde, wird geschickt und mit Einfühlungsvermögen geschildert. Der häßliche Krüppel, der nach menschlichen Kontakten hungert und trotz bitterer Enttäuschungen die Hoffnung nicht aufgibt, eine Frau zu finden, die ihn lieben kann, der immer einsamer wird und schließlich aus Verzweiflung der Trunksucht verfällt und zu versumpfen droht — diese Entwicklung ist psychologisch gut motiviert; der Versuch Toulouse-Lautrecs, den ja auch seine Bilder bezeugen, in den dunklen Revieren der Verworfenheit menschliche Regungen und Möglichkeiten aufzuspüren, richtig erkannt und dargestellt. Und doch erweist sich die Form des Unterhaltungsromans, die La Mure gewählt hat, als nicht zureichend, um der menschlichen Tragik in Toulouse-Lautrecs Schicksal voll gerecht zu werden.

Der Titel von Hildegard P 1 i v i e r s Buch „Meine Hunde und ich“ ist eigentlich zu bescheiden. Die Hunde — drei herrliche Windhunde und später zwei ebenso prächtige Schäferhunde — spielen zwar eine große Rolle in den Jahren, die das Ehepaar Plivier nicht ganz freiwillig zwischen 1934 und 1945 in Rußland verbrachte, aber darüber hinaus hat die Autorin doch sehr viel anderes Interessantes zu berichten und tut es mit Charme und literarischem Talent. Am aufschlußreichsten für uns im Westen sind die vielen Begegnungen mit Russen, „mit Arbeitern, Beamten, mit dem Volk“ — zunächst in einem Leningrader Kommunalquartier, einer ehemaligen „Herrschaftswohnung“, deren Zimmer nun von verschiedenen Parteien bewohnt werden; außer den Pliviers lauter Russen, die sich nach anfänglicher Reserviertheit gegenüber den Ausländern später als liebenswerte und hilfsbereite Kameraden erweisen. „Russen können, wenn es sich nicht gerade um CPU-Beamte oder Apparatschiki (Parteibeamte) handelt, überaus gutmütig sein, und wenn sie gar Freundschaft mit einem geschlossen haben, geben sie das letzte Hemd her.“ Nach einem jahrelangen Intermezzo in der Wolgadeutschen Republik — die Pliviers bekamen vom russischen Schriftstellerverband den Auftrag, die Kultur in diesem abgelegenen Winkel der UdSSR mitaufbauen zu helfen — wird das Ehepaar nach Moskau zurückgerufen und darf sich nach einigen Zwischenspielen ein Holzhäuschen in der Nähe der Stadt bauen, wobei Bestechung, aber wieder auch die tatkräftige Hilfe von Russen — köstlich urwüchsiger Typen aus dem Volk — keine geringe Rolle spielen. Ueber dieser Zeit liegen, trotz mancher freundlicher Geschehnisse, schwer die Bedrohungen der gerade wieder auf Hochtouren laufenden Säuberungsprozesse und auch schon die Schatten des kommenden Krieges — Ereignisse, die Vielen russischen und in der UdSSR lebenden deutschen Freunden der Pliviers zum Verhängnis werden. Sie selbst haben Glück und überstehen heil die gefährlichen Zeiten.

Ein weiter Weg, diese elf Jahre Rußland, die Hildegard Plivier, wenn gelegentliche politische Abschweifungen in diesem Land auch unvermeidlich sind, ganz von der menschlichen Seite her schildert. Und die ist bunt und vielfältig. Man spürt wieder einmal beglückt, daß man Mensch bleiben kann auch unter dem Zwang eines unmenschlichen Systems — eine Tatsache, die wir nicht vergessen sollen.

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