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Abschied eines Dichters

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Das Drama, das sieben Jahresakte lang den Schauplatz Europa in Atem hielt, näherte sich seinem chaotischen Ende. Nicht nur Städte und Dörfer, Rüstungszentren und Frontnähe brannten, sondern bis in die fernsten Bergtäler und einsamsten Dörfer strahlten die Glu-ten des großen Krieges. Nichts blieb verschont. So wie die Furie Hunderttausenden nach dem Leben griff, so blieben auch Kulturbauten und geistige Werte nicht verschont. Und ein solcher Wert war für jene, die in diesen Jahren Kultur und Dichtung die Treue hielten, das Haus Wiesenstein, der Wohnsitz Gerhart Hauptmanns. Ein halbes Dezennium ist über die immer noch erschöpfte Welt hingegangen, aber die Berichte über das Sterben des greisen Dichters sind so spärlich und widersprechend, daß es an der Zeit ist, einmal verbürgte Nachricht zu geben.

Im Februar 1945 hielt sich Gerhart Hauptmann, eines rheumatischen Leidens wegen, in Dresden auf — gerade als der tödliche Angriff diese Stadt vernichtete. Der Greis war damals nicht zu bewegen, sich in Sicherheit zu bringen. Vom Fenster aus, eingehüllt in seinen schwarzen Mantel, starrte er auf 'das Inferno. Wenige Meter vor dem Haus barst eine Bombe, überschüttete den Reglosen mit Mauerstaub und Glassplittern (ein danteskes Bild). .Wer das Weinen verlernt hatte, der lernte es wieder bei dem Untergang Dresdens“, schrieb er einen Monat später in seiner Nänie auf diese Stadt. Trotz aller Vorhalte drang er auf die Rückkehr nach dem .Wiesenstein“ in seinen schlesischen Bergen. „Mir machen die Russen nichts“, sagte er stets mit abwehrender Handbewegung. Und er hatte recht. Man begegnete ihm mit größter Achtung; seine Antwort und Hilfe auf das weltberühmte Telegramm Gorkis (1921) waren nicht “vergessen. In jenen Tagen malte ihn der junge Schle-sier Ernst Ulbrich, und ihm sei als Berufenem hier das Wort gegeben: „Hauptmann in dieser Stunde gegenüberzutreten, war ein erschütterndes Ereignis. Er ist nur noch Stirn, nur Kopf, nur Auge ... Und seine Hand, die man erschüttert ergreift — man muß sie selbst nehmen, denn ihm scheint die Kraft zu fehlen, sie zu reichen —, ist groß und steif und kalt... Aber dann gab es wieder Stunden, da hinter der mächtigen Stirn der Dichter sich wiedererkannte und der große Geist aufloderte...“ — Alle Versuche von russischer und ostdeutscher Seite, ihn doch nach Berlin zu bringen, scheiterten an seinem hartnäckigen Widerstand. „Ich werde dieses Haus nie verlassen, es sei denn, die Beine zuerst.“ Er und seine Umgebung wußten: das Haus, die mythische Hülle seiner Seele, ließ ihn nicht los. Trotzdem, das Sdrick-sal war hart: alle Deutschen des Kreises waren schon im Laufe des Jahres ausgewiesen worden, und der Dichter war fast völlig vereinsamt. Einzelne Zurufe aus der nun wieder offenen weiten Welt fanden ihre Wege zu ihm, dessen-Arbeit, soweit die geschwächten Kräfte es zuließen, dem großen Fragment „Der neue Christopherus“ galten. 1946 aber machte das Gesetz auch vor dem Dichter nicht halt. Heimlich begannen die Getreuen die Vorbereitungen zum Auszug. Er, der an sein Zimmer im oberen Stork gefesselt war und von alledem nur ahnte, schrieb in dem — vielleicht letzten — Gedicht „T r o s t“, die Zeilen:

„Ein andrer Sturm

weht heut ums Haus

als der \or tausend Jahren:

wir bleiben immer unerfahren

inmitten des Daseins unendlidiem Graus.“

Und noch am 9. Mai 1946 schrieb er an Felix A. Vogt, den Freund und Mitherausgeber der Ausgabe letzter Hand: „Es schwebt so allerlei!“ Wie das geheime Wissen um die nahe Entrückung muten diese Worte an. An den schönen Tagen dieses Mai trug man den greisen Dichter in den sonnigen, aufblühenden Garten, den er so sehr liebte. Dabei scheint er sich jedoch erkältet zu haben und es traten Symptome einer Lungenentzündung auf. Dem Arzt gelang es zwar, ihn fieberfrei zu machen, so daß er äußerte: „Von morgen ab wird wieder gearbeitet. Ich will eine große Rede an das deutsche Volk schreiben, die eine Ermutigung, ein Appell zur Zuversicht und zur Einigkeit sein wird“, aber dazu kam es nidit mehr. Ein Rückfall schwächte ihn zu sehr — er verfiel in Agonie.

Kurz vor seinem Tode aber rang der große Geist sich noch einmal durch, und erwachend bat er die Pflegeschwester, ihm seine vertraute Bibel zu bringen und Paulus' 2. Brief an die Korinther aufzuschlagen. Dort lies er sich die Worte vorlesen: „... daß er ins Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, die auszusprechen einem Menschen nicht gestattet ist.“ Danach sagte er: „Schwester, streichen Sie es an, das ist wunderbar.“ Es waren seine letzten Worte. Er verlor erneut das Bewußtsein und starb am 6. Juni 1946 um drei Uhr nachmittags.

Als 1832 Goethes Tod bekannt wurde, lähmte diese Nachricht das Land, in Paris brachen die Theater ihre Vorstellungen ab — ein Kontinent trauerte. 1946 war zuviel Leid über die Welt gegangen, zuviel Grauen — um den Verlust Gerhart Hauptmanns voll zu erfassen. Ja, es vergingen Tage, ehe man in der Welt davon wußte, und noch lange hielt sich irrtümlich der 8. Juni als Todestag. Am Pfingstsonntag darauf fand im Arbeitszimmer des Dichters die Trauerfeier 6tatt. Der große Tote trug, seinem Wunsche entsprechend, das Kleid der Franziskaner, in den gefaMeten Händen die Bibel: das vom lohenden Weißhaar umrahmte Haupt ruhte auf einem Säckchen schlesischer Erde, in welcher für immer zu liegen ihm nicht vergönnt war. Nach der ergreifenden Totenmaske, die sich im Besitz der Witwe befindet, zeigt das Gesicht viel strengere Züge als im Leben, so als hätte es den Ernst der Erdenstunde mit in die andere Welt hinübergenommen; nur der halb geöffnete Mund — dieser „unendlich mundhafte Mund“, wie Rilke ihn einmal nannte — erscheint unter unhörbaren Atemzügen belebt.

Erst am 21. Juli erreichte der Sonderzug, der den Toten, aber auch das ganze Archiv und Inventar des Hauses Wiesenstein mit sich führte, die neue deutsche Staatsgrenze. Acht Tage später fand die Beisetzung auf der einsamen Ostseeinsel Hiddensee statt, die lange Jahre dem Dichter als Sommerdomizil gedient und der er in „Gabriel Schillings Flucht“ ein so schönes Denkmal gesetzt hatte. Getragen von sechs Dichtern, wurde der Sarg um fünf Uhr früh bei Sonnenaufgang in die Erde gebettet. Ein Fischermädchen von der Insel sprach dabei als letzten Gruß die Worte: „Gerhart Hauptmann, dein letzter Wunsch ward Erfüllung, beim Ansteigen des Tagesgestirns wardst du in die Erde gesenkt — nicht als ein Toter, sondern als einer unserer Großen, der in seinen Werken immer unter uns leben wird.“

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