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Abschied von Christian

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Nur noch wenige Wochen und mein Knabe kommt fort. Er ist fünfzehn Jahre alt. Bisher wurde er von einem Hauslehrer unterrichtet. Wir leben auf dem Lande und er fuhr zweimal des Jahres in die Hauptstadt, um dort seine Prüfungen abzulegen. Bei der letzten Prüfung schnitt er nicht gerade glänzend ab und alle, der Direktor und die Professoren, redeten meinem Mann und mir zu, ihn die Sdiule besuchen zu lassen. Sie sprachen allerhand von Kameraden und Sport und daß es in der Stadt viele Unterrichtsbehelfe gäbe, die auf dem Lande nicht zu haben wären. Sie sprachen so überzeugend, daß mein Mann sich entschloß, das Kind in die Stadt zu übersiedeln. Mich fragte niemand. Meine Einwilligung wurde stillschweigend vorausgesetzt.

Von der Mutter sprach niemand. Niemand dachte daran, was diese Veränderung für mich zu bedeuten habe. Niemand! Weder der Direktor noch die Professoren noch mein Mann noch Christian, mein Sohn. Der freut sich auf die Stadt. Es erscheint ihm ungemein interessant, plötzlich eine fast selbständige Existenz führen zu dürfen.

Wir können ihn nicht in ein Internat geben. So wie die Verhältnisse liegen, können wir für das Kind nur ein Kosthaus bezahlen. Er wird bei einer fremden Frau ein Zimmer bewohnen. Sie wird ihm hoffentlich genug zu essen geben, verwöhnt ist er ja nicht, und wird ihn überwachen.

Sie, die Kostfrau, wird Mutterstelle an ihm vertreten und ich, die Mutter, ich werde plötzlich kein Kind mehr haben.

Er wird seine Körperpflege vernachlässigen und das Waschen auf ein Minimum beschränken. Er wird seine Zähne nicht ordentlich putzen. Er wird mit nassen Schuhen h rumlaufen und niemand wird ihn zwingen, andere anzuziehn. Er wird sich erkälten und niemand wird es bemerken. Er wird fiebernd im Bett liegen und niemand wird da sein, um ihn zu pflegen, als eine gleichgültige, brummige Frau. Und ich, die Mutter, die doch dazu da ist, ich werde fern sein, ja, ich werde überhaupt nichts davon wissen. Ich werde keine ruhige Minute mehr haben. Immer werde ich fürchten, daß er erkrankt oder daß ihm etwas geschehen ist.

Mein Mann sagt, ich solle doch vernünftig sein. Ich kann nicht vernünftig sein, ich bin eine Mutter.

Wie schön und friedlich war unser gemeinsamer Kirchgang am Sonntag. Wird er in der Stadt die Messe besuchen? Das Lernen, Spiel, Sport und Kino. Das wird seine Zeit ausfüllen. Und er wird keine Zeit mehr haben, an Gott zu denken. Gott wird ganz aus seinem Leben verschwinden.

Das kleine Zimmer neben dem meinen, das er bewohnt und dessen Tür immer offen steht, wird leer sein. Ich werde nicht mehr seine leisen Atemzüge hören, ich werde ihn nicht mehr im Traum lachen und reden hören. Wie war es oft komisch und wie unterhielt es mich, wenn er französische oder lateinische Wörter so undeutlich stammelte, daß man ihren Sinn nicht verstehen konnte. Und die langen Gespräche am Abend, von Bett zu Bett, in denen er mir seine Pläne, Hoffnungen und Wünsche vertrauensselig und kindlich beichtete, wie unendlich schmerzlich werde ich sie vermissen. Die Tür zu seinem Zimmer wird immer offen bleiben und sein Bett für ihn immer bereitet sein. Und wenn ich das Zimmer betrete, werde ich mich auf sein Bett setzen.

Ich werde seine Kissen streicheln, an ihn denken und weinen.

Auch die Tauben, die wir beide so liebten, werden verwaist sein. Die Tauben und ich, wir werden es vielleicht am tiefsten empfinden, daß der „kleine Mensch” nicht mehr da ist. Wir hatten die Tauben miteinander auf dem Boden installiert. Wir hatten zu ihnen gesagt: „Wachset und mehret euch!” Und sie hatten es dank dem ausgiebigen Futter in der verschwenderischesten Weise getan. Wir hatten ihnen kleine, grüne Ringe um die Füßchen gelegt und ihnen gemeinschaftlich Namen gegeben. Die verrücktesten Namen der Welt, Namen von Automobilen und Rennfahrern, von Sportgrößen und Kinostars. Und die Töchter und Söhne des Hispano und der Greta Garbo, des Schneeweiß und der Claudette Colbert, der Pau- sins und des Nurmi wurden verkauft und den Erlös bekam Christian.

Wir fütterten die Tauben gemcinschafdich und oft um die Wette. Mein Mann mußte auf Christians Geheiß ganze Fuhren Kukuruz hergeben.

Wenn ich es ihm jetzt zumutete, einige unserer Tauben mit in die Stadt zu nehmen, um sic mit kleinen Botschaften wieder an mich zurükzusenden, würden alle im Haus midi auslachen.

Ich werde mich nun allein um die Tauben kümmern. Ich werde mit ihnen von meinem Buben reden.

Wie traurig werden nun die Abende sein. Wie interessierte er sich für den Sternenhimmel. Wie oft standen wir in klaren Nächten unten am Teich und betrachteten die Sternbilder und ihre Stellung zu uns und untereinander. Und wir beobachteten den Wind und den Flug der Wolken und den

Stand des Barometers, und unsere Prophezeiungen trafen fast immer ein. Das wird in der Stadt vergessen und verloren sein. Er wird ins Kino gehn und ins Kaffeehaus, er wird übermäßig trainieren und sein Herz überanstrengen. Denn er ist ein heimlicher Athlet, er ist ehrgeizig und überschätzt seine Kraft. Gleichgültige und vielleicht ungute Menschen werden Einfluß auf ihn nehmen. Das Kind, das mein Eigentum war, das ich kannte, dessen Seele offen und unverhüllt vor mir lag, wird mir fremd werden. Andere werden kommen und ihre Hand auf ihn legen. Fremder Atem wird ihn umwehen und ich werde nicht mehr teil an ihm haben.

Das Band zwischen ihm und mir wird gewaltsam zerrissen werden und der Schmerz um ihn wird unerträglich sein.

Er ist jung und voll Leben. Er ist schlank und schön. Bald werden die Frauen ihn aus seiner Ruhe scheuchen und niemand wird da sein, um ihm beizustehen. Muß er da nicht Schaden nehmen an seinem Leib und an seiner Seele?

Ich leide um ihn. Zum erstenmal. Ewige Angst wird um mich sein. Was bedeutet mir ein Leben ohne ihn! Das große Haus wird leer sein. Der Garten, dessen Wege jetzt die Spuren seines Rades und seiner Laufschuhe tragen, den ich mit ihm durchwanderte und in dem ich ihm auf Schritt und Tritt begegnen konnte, wird öde und stumm sein.

Mein Mann hat seine Arbeit in Feld und Wald und in seiner Kanzlei. Er ist am Abend so müde, daß er, die Zeitung lesend, einschläft. Auch ich habe meine Arbeit. Aber es bleiben mir viele leere Stunden. Wie soll ich sie ausfüllen, wenn er nicht mehr da ist?

Ich gab Christian französischen Unterricht. Oh, wie gern tat ich das! Wie wunderschön war es, seinen lieben Kopf neben dem meinen zu haben, meine Wange dicht an der meinen, sie manchmal mit den Lippen streifen zu dürfen, obgleich diese Zärtlichkeit immer streng gerügt wurde. Wie beglückend war es, ihm von meinem Wissen geben zu dürfen. Es war, als durfte ich ihn nodi einmal stillen. Es waren die Stunden im Tag, die ich am meisten liebte. Da war er ganz mein. In meiner Gewalt. Mir ausgeliefert. Knospe von meinem Baum, die ich von mir geben muß, ehe sie sich zur Blüte entfaltet.

Mein Kind, mein einziger Sohn! Ich will dir den Abschied nicht schwer machen. Ich will meine Tränen verbergen und meinen Schmerz vor dir geheim halten, so lange du noch da bist. Ich will nur um ein Einziges bitten:

Daß du vor mir offen bleibst. Daß du mir weiter vertraust. Gott und mir. Und daß du immer zu mir kommen mögest mit deinen Gedanken und Wünschen, deinen Sorgen und Sünden. Und daß du den Weg zu mir niemals verlierst. Leb wohl!

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