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Abschied von Churchill

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Man hat den recht ehrenwerten Sir Winston Leonard Spencer Churchill den letzten Vertreter einer versinkenden Epoche genannt. Das trifft so wenig zu wie irgendeine Charakteristik, die es unternähme, das Phänomen Churchill in eine Gesamtheit völlig einzuordnen. Er war, er ist vor allem und wesentlich er selbst, in dessen vielfältiger, faszinierender Persönlichkeit sich die Eigenheiten der mannigfachsten Völker und Rassen, Klassen und Zeitalter wiederfinden, ohne daß er einer einzigen Kollektivität ganz verschrieben wäre. Von der einen Ausnahme abgesehen: er war. er ist der glorreiche, glänzende Repräsentant des weltumspannenden Reiches, das durch die Loyalität gegenüber der Krone, durch den Lebensstil und durch die Lebensauffassung fester zusammengehalten wird als durch formelle Verträge und jederlei papierene Paragraphen. Diesem Empire, das sich zum Commonwealth nicht mehr nur der britischen, sondern überhaupt der Nationen gewandelt hat, gleicht er, der Mitschöpfer dieser neuen Form menschlicher Symbiose und bisnun, vermutlich auch auf lange hinaus, der überragende Staatsmann ebendieses Gebildes, darin, daß er seine Kraft und seine Größe aus der harmonisch bewältigten Mannigfaltigkeit miteinander unverträglicher Gegensätze schöpft; daß er sich den wechselnden Bedingtheiten mit einer vornehmen Ueberlegenheit anpaßt, die nichts von schleimigem Opportunismus an sich hat. Nein, Sir Winston ist keineswegs nur ein später „Victorian“, ein Kipling der Politik gewordenen Dichtung oder ein Schüler des in die Politik hinübergesprungenen Poeten Disraeli-Beacons-field. In ihm begegnen uns nicht minder die Züge des Grandseigneur, der als Zeitgenosse Walpoles die Geschicke des Landes mit einem Gemisch von stolzer Würde und menschenverachtendem Zynismus lenkte, dann wieder die kühne Abenteuerlust der Elizabethians und der ritterliche Kampfgeist aus der Aera des Widerstreits der beiden Rosen. Doch gemahnt er nicht auch an die amerikanischen „Pioneers“, die in die unbekannten Wildnisse des unerforschten Kontinents vorstießen? Und dünkt uns nicht manchmal in ihm, dem erprobten Freund Frankreichs, dem Schätzer deutschen Geistes, mehr als bloße äußerliche Fühlung mit den Herzvölkern des europäischen Kontinents am Werk?

Vielleicht ist das Phänomen Churchill in seiner Vielfalt am ehesten deutbar, wenn wir es um seine Ursprünge befragen. Die amerikanische Mutter, Tochter eines recht unbekümmerten Zeitungsherausgebers und Politikers, von fernher mit einem Schuß Irokesenblut in den Adern, temperamentvoll, dreimal verheiratet, zum letzten Male siebzigjährig, nach erfolgter Scheidung; der hochbegabte Vater, Lord Randolph, Herzogssohn aus dem Hause Marlborough, den der frühe Tod daran hinderte, die ihm vorbezeichneten Höhen einer verheißungsvollen politischen Laufbahn zu erklimmen: das waren die unmittelbaren Voraussetzungen. In der Ahnentafel des Premierministers treffen wir aber in früheren Generationen eine Auslese des Besten, das die Oberschicht und die gebildete Mittelklasse Großbritanniens zu bieten hatte: neben aristokratischen Staatsmännern Admirale, berühmte Aerzte, Juristen und vor allem Mitglieder des anglikanischen Klerus. E i n Erbstrom ist besonders wichtig, denn er ergießt sich zweimal in Churchills Blut: das Ehepaar John Stewart, 7. Earl of Galloway, und Anne Dash-wood sind doppelt Urgroßeltern Lord Randolph Churchills, des Vaters Sir Winstons. Entsinnen wir uns, daß George 8. Earl of Galloway Admiral der blauen Flagge und ein großer Freund einfs guten Trunkes war; daß Lady Catherine Cochrane, Mutter des 7. Earls von Galloway, in weiblicher Linie von den alten Königsgeschlechtern der Tudor und Plantagenet, der Stuart und der Angelsachsen aus dem Hause Alfreds des Großen wie von den einstigen Fürsten von Wales abstammt, anderseits auch von einer La Tremoille, die bei ihrer Heirat mit einem Stanley-Derby das Blut der erlauchtesten 'ranzösischen und deutschen Familien nach England brachte. Sir Winston, Nachkomme zum Beispiel der Valois, der Bourbonen und der älteren Kapetinger, übrigens auch der Agnes Sorel, Deszendent der Hohenzollern und der Weifen, der Wettiner und der Wittelsbacher, der Luxemburger, Hohenstaufen: werden wir uns darüber wundern, daß sein Verständnis nicht an den britischen Grenzen haltmacht?

Der Mensch, zumal der große, überragende, ist freilich nicht durch seine Abkunft allein be-itimmt. Erziehung und Umwelt formen ihn mit, ehe er dann sich selbst zur vollen Persönlichkeit gestaltet. Zögling einer Militärschule, Husarenleutnant, Freiwilliger auf Kuba, Kriegskorre-ipondent in Südafrika und dort von den Buren gefangen, alsbald ins Unterhaus gewählt, dem er seit 1900 mit kurzen Unterbrechungen angehörte, einunddreißigjährig zum erstenmal Minister, Inhaber der Portefeuilles für Handel, Inneres und Marine, ist Churchill bei Ausbruch des ersten Weltkriegs bereits eine europäische Figur, deren Ansehen und Bedeutung längst nicht mehr auf seine Heimat beschränkt ericheint. Seine geschichtliche Rolle seit jenen Schicksalstagen des alten Europa ist uns allen gegenwärtig. Er wurde zur Verkörperung des britischen Lebenswillens. Unerschrocken zum Angriff mahnend, wenn das Gelingen versprach; zäh und unbeugsam, wenn sich der britische Löwe in die Verteidigung gedrängt sah, scheute Churchill vor keinem Wagnis, vor keinem Irrtum zurück. Er hat gigantische Mißgriffe getan und sie alle wieder gutgemacht: den Sprung nach Antwerpen, die Dardanellenexpedition. Er war in der Parteipolitik von vorbildlicher Untreue; keine Fraktion durfte seiner sicher sein, solange er nicht ihr Führer war. Er blieb, auch bei zeitweisem Abtreten vom parlamentarischen Schauplatz, von, der Ministerbank, eine Macht, ein mahnendes Gewissen — boshafte Kritiker meinten, eine mahnende Gewissenlosigkeit. Vor allem aber, er behielt stets im Ergebnis recht. Ob er seinerzeit riet, rechtzeitig die Konsolidierung des russischen Kommunismus zu verhindern, oder ob er später vor Hitler warnte, ob er im zweiten Weltkrieg den einzig vernünftigen strategischen Plan verfocht, der den ein Jahrzehnt darauf folgenden kalten Krieg vermieden hätte; ob er endlich, nie an Formeln oder an Vorurteile sich klammernd, die Notwendigkeit eines friedlichen Nebeneinanders von West und Ost erkannte und zu offener, mannhafter Aussprache auf Grund der Gegebenheiten riet.

Nicht so sehr seine Irrtümer und die vielen unleugbaren Schwächen seiner großartigen Gesamtpersönlichkeit wurden ihm von kleinlichen Mäklern verübelt, als eben jene schier unfehlbare Witterung für die entscheidenden Zusammenhänge und für die zu wählenden leitenden Richtlinien. Das hat sich auch in der Innenpolitik — mit tragischen Folgen für Churchill und für sein Land - gezeigt, da man ihn, den wahren Sieger des zweiten Weltkriegs, auf dem Altar des Sentiments und des Ressentiments opferte und damit die Liquidierung eines Empires einleitete, das so wenig {allreif war wie zuvor die Habsburger Monarchie. Nur daß man, nicht zuletzt dank Churchills Beistand, schnell einen Ausweg fand, um auf den Trümmern des Empire das Commonwealth aufzubauen, während die Habsburger Monarchie ... Ach, es soll Churchill auch das nicht unvergessen sein, daß er diesem Reich der harmonischen Mitte nachtrauerte und daß er dessen Untergang sogar insoweit verurteilte, als er oder seine Freunde dabei mitgewirkt hatten. Hier, wie immer, hat Sir Winston den rechten Blick nicht nur des Staatslenkers, sondern auch des Historikers und des politischen Ethikers bewährt, der er — Amoralist in manchen kleineren Dingen — allezeit gewesen ist.

Der Vielseitige hat Geschichte nicht nur gemacht, sondern auch sie — meisterhaft — geschrieben. Er ist ein Klassiker des englischen gedruckten und gesprochenen Wortes, ein Denker und eben einer jener begnadeten Führer, die den Nationen nicht durch rohe Gewalt aufgezwungen noch im Rauseh aufgelistet, noch von der Dummheit aufgeschwatzt werden, sondern die von der Vorsehung im entscheidenden Moment gesandt sind. Daß er, im hohen Alter, freiwillig die Fackel dem Jüngeren, dem nach ihm Begnadetsten abgebend, im vollen Glänze geschichtlicher Leistung den verantwortlichen Platz am Steuer verläßt, ist ein Gebot der grausamen Natur. Daß er das tun muß, vielleicht knapp vor dem ihm höchsten und von ihm unermüdlich angestrebten Ziel, gehört zu der Tragik, die über dem Dasein des in den Augen Oberflächlicher als beneidenswertes Glückskind Strahlenden schwebt, über ihm wie über jeder wahrhaft irdischen Größe. Diese Tragik ist der Zoll, den der Ueberragende an den Neid der falschen Götter und der allzu echten Menschen bezahlt.

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