6719204-1965_05_01.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von Churchill

Werbung
Werbung
Werbung

Das lange, aber nicht unfriedliche letzte Ringen hat den großen Mann noch einmal in den Blickpunkt gerückt. Da stand eine gewaltige, fast unbesiegbar scheinende Lebenskraft Ohne die Dissonanz van Schmerz neben dem Sich-bescheiden-Müssen, der Wille zu bleiben neben der demutsvollen Ahnung.

Es war still geworden um ihn, in diesen Jahnen. Das Gesicht des großen Staatsmannes hatte schon lang vor der Ehrung im Unterhaus seine letzte Veränderung erfahren: eingefallen war es und kindlich gnomenhaft geworden, seine Augen wurden allzuoft feucht, dabei die Züge maskenhaft, ohne Ausdruck: Ein Stein der weint. Aber dann und wann, zuletzt bei der Feier seines 90. Geburtstages im Unterhaus, brach es wie fernes Wetterleuchten hervor: Ein Blick, ein Lachen, eine Erinnerung, und aus seinen Zügen wurde wieder eine Landkarte des Abenteuers.

Und dieses Leben war das größte Abenteuer seiner Epoche. Seiner ganzen Anlage nach hätte es ungebärdig, zerstörend, maßlos und ohne Grenzen sein können; aber ein edler Wille hat es stets von neuem gebändigt, der großen Sache unterstellt und die Gewalt in den Dienst der Harmonie gestellt. Man hätte meinen sollen, daß das Knäblein, das am 30. November 1874 inmitten seidener Hüte, samtener Capes und Federboas auf die Welt kam — die schöne Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, den St.-Andrews-Ball zu besuchen, und war in der Garderobe von den Wehen überkommen worden —, wenig Chance zum Abenteuer gehabt hätte. Die jüngeren Söhne der großen Familie machten leicht, aber ohne besondere Dramatik Karriere. Die Zeit rascher Wechselfälle, an die sich die Zeitgenossen Elisabeths I. gewöhnt hatten, und der großen Aufstiege in die Sphäre des Halbsouveränen, die der erste Herzog von Marlborough erreicht hatte, war vorbei. Kein Wunder also, daß der junge Winston, auf dem so lange der tragische Schatten eines bedeutenden, aber früh gescheiterten und früh gealterten Vaters ruhen sollte, zunächst dem Abenteuer über die halbe Welt entgegenreisen, sich jedes Quentchen davon erstreiten und erzwingen mußte. Entgegenreisen: nach Kuba, nach Indien und an die nordwestliche Grenze, nach Ägypten, dem Sudan, wo ihm noch einmal der religiöse Fanatismus des Mittelalters in Gestalt der Derwische entgegen reiten sollte, nach Südafrika und manch anderem Fleck der Welt. Später gewöhnte sich das Abenteuer allerdings an den ungestümen Freier; man kann ruhig sagen, daß die beiden unzertrennlich wurden.

War also Churchills Beruf das Abenteuer geworden, so war er doch kein Abenteurer von Beruf, auch dem Typus nach nicht. Bei aller ihm eigenen Aggressivität besaß er doch eine breite Behaglichkeit, einen schlummernden Großmut und einen keinesfalls spitzen Humor; alles Eigenschaften, die ihm in jenem „besten Klub der Welt“, dem englischen Unterhaus, unentbehrlich waren. Wie so oft in Winstons Leben verband sich auch hier das Notwendige mit der Neigung. Um in England große Karriere zu machen — und Winston hat nie etwas anderes vorgeschwebt —, mußte man im Unterhaus erfolgreich sein. Also zog er — frisch bedeckt mit den Lorbeeren seiner Flucht aus dem burischen Gefangenenlager und durch prächtig geschriebene Reportagen und Bücher bekanntgeworden — nach Westminster. Das war die Notwendigkeit — zugleich aber hat er sich nirgends wohler gefühlt als in diesem Klub, wo man damals noch die Gesetze zimmerte, die für weite Teile der Welt bindend waren. Die in den „Commons“ herrschende Mischung von mittelalterlicher Pracht und neuzeitlicher Lässigkeit hatte es ihm von Anfang an angetan. •Offensichtlich konnten sich hier die Marlboroughs zurechtfinden, von denen Winston väterlicherseits abstammte; aber hier waren auch die Jeromes von jenseits des Atlantiks in ihrem Element, von denen seine Mutter die unglaubliche Vitalität, die Schönheit und Lebendigkeit geerbt hatte. Eigenschaften, die den Zeitgenossen erst bei ihr so richtig aufgefallen zu sein scheinen.

Von dem alten Jerome, Winstons Großvater also, wußte Randolph Churchill, als er dem herzoglichen Vater von seiner Absicht, die Tochter zu heiraten, berichtete, nichts anderes zu sagen, als daß er ein Gentleman sei, dessen Geschäfte ihn dazu nötigen, in New York zu leben. Ein Ausspruch, der übrigens in seiner Knappheit sowohl die Zeit als auch die soziale Schicht gut kennzeichnet.

Etüden sind immer ein wenig langweilig. Die Etüden, die Winston hinter sich zu bringen hatte: Staatssekretariat für Kolonien, Handelsministerium und Innenministerium, sind davon keine Ausnahme. Er spielte sie virtuoser, als es sonst üblich ist, er brachte in die graue Welt der Bürokraten etwas von den Farben von Blenheim, den Lärm der anreitenden Derwische und das Rattern des Kohlenzuges, an dessen Achse geklammert er den Buren entkommen war. Er verblüffte die Diener einer ewigen Routine mit Einfällen und Gedanken, die teils sehr praktisch, teils völlig undurchführbar waren; aber noch sind die Töne nicht voll, noch schweigt die große Orgel des Schicksals. Das aber ändert sich in dem Augenblick, da er das Marineministerium übernimmt und sich daranmacht, jene großen Reformen durchzuführen, ohne die das traditionelle Mittel englischer Weltgeltung im ersten Weltkrieg zweifelsohne versagt hätte. Noch im nachhinein überkommen einen leise Schauer ob der Kühnheit des Entschlusses, die Flotte bereits am Rande des Konflikts nicht nur auf ölfeuerung umzustellen — ohne daß man die Kontrolle über die Fundgebiete besessen hätte — und sie obendrein mit Geschützen zu bestücken, die nicht mehr ausprobiert werden konnten, sondern geradewegs eingebaut wurden. Was wäre geschehen, wenn die Schiffe die größere Armatur nicht getragen hätten oder wenn der Konflikt in einem Augenblick eingetreten wäre, da die Umstellung noch vor der Vollendung war? Niemand mag es mit Sicherheit sagen. Nur eines ist klar, daß Winston von dem Augenblick an, da er ins Marineministerium eingezogen war, nur noch Funktionen von weltgeschichtlicher Bedeutung erfüllt hat. In dem ersten großen Völkerringen hat er versucht, aus einer immerhin noch untergeordneten Position eine Entscheidung größeren Ausmaßes zu erzwingen. Sein war der fruchtbarste strategische Gedanke dieses großen Ringens, die Dardanellan aufzubrechen, sich an dieser Stelle mit den Russen zu verbinden und die Front der Mittelmächte aufzurollen. Wäre es gelungen, der Krieg wäre zwei Jahre früher zu Ende gewesen und Rußland wäre nicht in die furchtbaren Katarakte der leninistischen Revolution hinabgestürzt. Schlecht ausgeführt und infolge eines unverständlichen Mangels an Koordination zwischen Heer und Flotte von vornherein zum Mißerfolg verurteilt, scheiterte das Vorhaben nach schwerem Blutzoll. Das mit Leid und nutzlosen Opfern vollgesogene Wort „Gallipoli“ senkte sich wie eine Grabplatte auf die Laufbahn und Zukunftsaussichten Winstons. Abgesehen von einer kurzen Betreuung als Munitionsminister, verbrachte er nun Jahre in der „politischen Wildnis“; für eine Weile schienen Name und Ansehen dieses Mannes so verbraucht, daß er nicht einmal mehr seinen Sitz in Westminster halten konnte.

Mit der langsam aus Deutschland aufsteigenden Gefahr erhob sich Winston zu neuer Größe. Er war der einsame Mahner in einer Welt, die, wie T. S. Eliot einmal formuliert hat, nur noch an Geschäft, Dividenden und Bequemlichkeit dachte. Die Gegner warfen ihm vor, er wolle den Krieg und führe nur Klage, weil die anderen den Krieg, den er herbeisehne, sich vorzubereiten weigerten. Selbst die falsche Anekdote, die die böse Lady Asquith über ihn verbreitet hatte und derzufolge er bei der Meldung vom Ausbruch des ersten Weltkrieges freudig und erlöst gelacht habe, wurde von neuem ausgegraben. Vergeblich, daß man der Verfasserin nachwies, sie könne ihn in diesem Augenblick gar nicht gesehen haben, vergeblich, daß die, die damals mit Winston zusammenwaren, sich an die Tränen in seinen Augen erinnerten. Zum erstenmal wurde Winston kleinmütig. Visionen von Tod und Untergang überkamen ihn. Erst als die Dämme, die man trotz seiner Mahnung niemals verstärkt hatte, einbrachen und die Kernlandschaften Europas überflutet werden, fand er Ruhe und ein fast sagenhaftes Selbstvertrauen wieder. Die Aufgabe, auf die er sich sein ganzes Leben vorbereitet hatte, stand greifbar und nah vor ihm. Als ihn Georg VI. mit der Regierungsbildung betraute und er erst in den frühen Morgenstunden zu Bett ging, schlief er zum erstenmal wieder „ruhig und zuversichtlich ein“.

Über seine weltgeschichtliche Rolle im zweiten Weltkrieg ist alles Wichtige längst bekannt, nicht zuletzt aus seinem großartigen Memoirenwerk. Es gab in diesem Ringen Augenblicke des Triumphes und auch solche der Erniedrigung; in beiden war er sich seiner Stellung, seines Wertes und seiner Menschlichkeit bewußt. Die Versuchung des Zynismus ist nicht ganz an ihm vorbeigegangen, auch er war nicht ganz frei von der vielleicht unumgänglichen Gleichgültigkeit dem Schicksal von Tausenden gegenüber, wo es um Hunderttausende geht, nicht frei vom Herabblicken auf die Hunderttausende, wo es um die Millionen geht. Keine unbehaglichere Stelle in seinen Erinnerungen als die, wo er und Stalin mit Zündhölzern exerzierten, was mit Völkern geschehen sollte. Aber er konnte dann doch noch hochfahren und hochfahrend einen Toast ausschlagen, den der mächtige Georgier auf die Exekution von soundso vielen deutschen Offizieren ausbringen wollte und darauf hinweisen, was die Regierung Seiner Majestät niemals getan und niemals tun würde. Und in den Jahren die folgten, wurden viele Eigenschaften milder: Die Aggressivität gebändigt, Zorn und Enttäuschung weniger unvermittelt; die Wahlnie1-derlage nach dem Sieg hat er erstaunlich gut verwunden. Das, was in seinem Wesen edel und still war aber, trat deutlicher hervor, und dio Tür zur Macht hat er mit einem leisen, nachdenklichen Lächeln zugemacht, das ihm niemand zugetraut hatte.

Fühlte er damals, daß seine Hand damit schon auf einer anderen Klinke ruhte? Er hat sich's jedenfalls nicht anmerken lassen und bis zum Schluß gezeigt, wie das ist: Ein reiches Leben groß zu leben, ohne zu zagen und ohne zu zögern. '

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung