6782849-1969_51_01.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von den Patriarchen

19451960198020002020

Vergleicht man das Jahresende 1969 mit dem Jahresbeginn, kann man nicht übersehen, daß das Spektrum Europas wieder bunter geworden ist. Einige Probleme sind in Bewegung geraten; einige höchst bedeutsame Veränderungen sind eingetreten. In Helsinki scheint sich ein Plattform zu bilden, auf der Sowjets und Amerikaner miteinander technisch — und daher freier — reden können. Eine Sicherheitskonferenz ist zwar noch nicht deutlicher in ihren Konturen — doch zeichnen sich Ansätze dafür ab, daß die unüberwindlich scheinenden Vorfragen gelöst werden könnten.

19451960198020002020

Vergleicht man das Jahresende 1969 mit dem Jahresbeginn, kann man nicht übersehen, daß das Spektrum Europas wieder bunter geworden ist. Einige Probleme sind in Bewegung geraten; einige höchst bedeutsame Veränderungen sind eingetreten. In Helsinki scheint sich ein Plattform zu bilden, auf der Sowjets und Amerikaner miteinander technisch — und daher freier — reden können. Eine Sicherheitskonferenz ist zwar noch nicht deutlicher in ihren Konturen — doch zeichnen sich Ansätze dafür ab, daß die unüberwindlich scheinenden Vorfragen gelöst werden könnten.

Werbung
Werbung
Werbung

In Den Haag öffneten die EWG-Re- gierungschefs einen Spalt zum Euro- pa-Himmel, der auch Österreich etwas Sonnenschein verspricht; und schließlich konnte ein europäisches „Heißes Eisen“ zwischen Etsch und Eisack abgekühlt werden. In der Tat: die Grundkonstellation hat sich geändert. In Paris hat sich im Frühjahr der General in seinem eigenen Netz verfangen. Aber seine Erben sind Europäer.

Der Machtwechsel am Rhein scheint hingegen noch viel tiefgreifender. Die CDU muß damit rechnen, einen langen Marsch durch die Wüste anzutreten. Und Willy Brandt hat erste Taten gesetzt, die immerhin Bewegung verraten; wenngleich noch niemand abschätzen kann, wohin der Wagen rollt, dem er einen kräftigen Stoß versetzt hat.

Glaubt man den (noch angeblich geheimen) Nachwahluntersuchungen der deutschen Parteien, so ist der

28. September in der Bundesrepublik sogar mehr gewesen als ein Geleisewechsel. Meinungsforschungen sagen, daß heute 58 Prozent der Wähler die Regierung Brandt/Scheel unterstützen.

Damit allerdings haben die Potenzen der christlich-demokratischen Parteien in Europa eine arge Schwächung erfahren. War es doch die christlich-demokratische Bewegung nach dem Krieg, die die Grundlagen des Wiederaufstieges schuf. Die moderne Industriegesellschaft hat als soziale Leistungsgesellschaft Wohlstand und Stabilität begründet. Doch die christlich-demokratischen Parteien haben — wie jetzt das Beispiel der CDU zeigt — einfach zu sehr einem guten Stern und dem Vermächtnis ihrer Leistungen vertraut. Und haben übersehen, daß gerade die „Kinder“ der Umwälzungen Europas nach dem Krieg, der aufkommende „Neue Mittelstand“ aus Angestellten, gehobenen Facharbeitern und Technikern, das Erbe der Patriarchen nicht sonderlich schätzen.

So hat die CDU bei den Bundestagswahlen im .Durchschnitt 1,5 Prozent an Stimmen verloren; ihr Verlust lag in den großstädtischen Wahlkreisen bei 2,5 Prozent, in den Einzugsgebieten der Städte aber — dort, wo Satellitensiedlungen und Einfamilienhäuser der „Neuen Klasse“ stehen, hat sie 4,2 Prozent der Stimmen eingebüßt. Das immer unbedeutender werdende ländliche Milieu und die Kleinstädte haben diese Verluste auch nicht annähernd ausgleichen können.

Es zeigte sich, daß der Wähler seine Orientierung an neuen Leitlinien und durch neue Medien empfängt. Die Telekratie hat das Schicksal der Regierungen in der Hand. Wer die bessere Figur vor dem Fernsehen macht und die besseren Argumente dem Wohlstandsbürger ins Haus liefert, hat die Chancen der Zukunft erfaßt. Nicht immer haben die „alten“ Parteien mit ihrem eingefahrenen Establishment diese Situation erkannt. Noch immer herrscht das Leitbild der politischen Versamm lung vor, die sich nicht um den Wähler, sondern um den eigenen Parteifunktionär kümmert Das ist das eigentlich Entscheidende des Jahres 1969 in Europa gewesen; zwei „Patriarchen“ und zwei Systeme haben den Abschied genommen. De Gaulle in stolzer Größe des unverstandenen, unbedankten Heroen; Kiesinger und mit ihm eine ganze Garnitur als verbissen kämpfende, aber der Mißgunst des Augenblicks, der Feindschaft der Press und der Unordnung in der eigenen Partei Ausgelieferte.

De Gaulle und Kiesinger; zwei Männer ganz unterschiedlicher politischer „Bauart" haben binnen kürzester Zeit die Bühne verlassen und ihr Erbe Nachfolgern übergeben, die wiederum bei allen Unterschieden doch eine Gemeinsamkeit haben: experimentierfreudige Pragmatiker der Macht zu sein. Pragmatiker, die sich erheblich weniger Tabus aufgestellt haben als ihre Vorgänger.

Pompidou hat in dem halben Jahr seiner Amtszeit ein neues Selbstverständnis gefunden; und hat realistische Konturen für sein Land und Europa geschaffen, ohne daß irgendwer ernsthaft vom Ausverkauf Frankreichs reden kann — es sei denn der schmollende Patriarch in Colombey-les-deux-Eglises.

Und Willy Brandt zeigte in der kurzen Zeit seit seinem Amtsantritt sein Format gerade darin, daß er nicht zu einem aufgeregten Neuerer wurde, sondern die Leitlinien einer jahrelangen Außenpolitik übernahm, sie jedoch durch neue, mutigere Versuche einer Politik der Bewegung ersetzte. Das macht zwar die Methode seines Amtsantrittes durch nichts sympathischer; doch kann bis jetzt wohl niemand von einer Auslieferung Deutschlands an den Osten sprechen; es sei denn der schwäbische Patriarch in seinem heimatlichen Bebingen.

Vor diesem Hintergrund einer geänderten Szene rollt eine neue Phase der Europapolitik ab. Wird sie zu besseren Ergebnissen führen? Immerhin hat aber auch östlich des Eisernen Vorhangs ein gewisser Realitätssinn um sich gegriffen. Die Satelliten in Warschau, Prag und Budapest haben seit dem 21. August

1968 ihren Spielraum kennengelemt. Führt der erlaubte Kontakt mit Bonn jetzt wieder zu neuen Schwierigkeiten? Brandt hat die Weichen als Kanzler anders gestellt als weiland als Außenminister. Er erspart den Ostblockregimen Peinlichkeit und konzentriert sich auf Moskau. Denn auch dort liegt ein Schlüssel für ein vernünftiges achtes Jahrzehnt. Europa hofft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung