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ABSCHIED VON „WEIHNACHTEN“

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Liebe Mutter!

Nein! Ich kann das nicht mehr. Ich halte das nicht aus.

Bitte, Du, meine liebe und teure Mutter, sei nun nicht traurig. Wende Dich nicht ab mit feuchten Augen, mit stummer Resignation, schüttle nicht langsam den Kopf und geh nicht zu den anderen alten Frauen und klage ihnen Dein Leid. Sag bitte nicht, daß diese heutige Jugend ihre eigenen unverständlichen Wege geht, auf denen Du nicht folgen kannst. Halte mich nicht für undankbar. Aber bitte tu auch das andere nicht. Lächle nicht. Lege keinen Triumph in Deine Stimme, wenn Du erklärst, diese Generation werde schon sehen, wohin sie mit ihren Ansichten komme. Mein Weg ist nicht der einer blinden Masse, die nur den Lautsprechern folgt. Auch bin ich nicht ganz so jung mehr, wie Du mich fühlst. Du weißt ja, daß meine Kinder schon zur Schule gehen. Selbst soll ich schon ein Leitbild sein, indes ich noch nach Leitbildern suche. Diese Aufgabe nun mache ich mir nach Deiner Meinung unnötig schwer. Es ist meine Schuld, weil ich nicht einfach an die Tradition anknüpfe, weil ich mich nicht folgsam in die Reihe stelle. Gerade zu Weihnachten hätte ich nach Deinen etwas bitteren Worten die heilige Pflicht, die Bräuche der Familie weiterzupflegen, um so den Kindern Vorbild zu sein. An dieser Stelle öben, in diesem Augenblick schreibe ich es Dir, schreie ich auf und bitte und beschwöre ich Dich, es weder weinend noch lächelnd anzuhören: Nein, nein, nein, ich kann das nicht! Du hast mich so oft verstanden. Du hast Dich daran gewöhnt, mich ernst zu nehmen. Darum höre mich bitte auch diesmal an und versuche meinen Gedanken zu folgen. Ich möchte Dich und Dein erfülltes Leben doch nicht ändern, ich möchte Dich nicht etwa zwingen, Deine Tradition umzukehren oder zu verleugnen. Begreif es doch, bitte.

Es gilt für mich und meine Generation. Es muß ein Schlußstrich gezogen werden. Es ist zu Ende.

Du hast schwere Zeiten durchgemacht. In diesen Jahren, so sagtest Du, war es Dein einziger Halt, von Deinen Eltern genaue Richtlinien mitbekommen zu haben. Ich habe als Kind manchmal darunter gelitten und diese Richtlinien in dem Maße, als ich sie zu erkennen begann, als Flucht in die Pedanterie empfunden. Da war also der Advent, der laut Familienvorschrift mit dem Nikolaustag begann. Die Zahl der Nüsse, Feigen und Kekse, die wir bekamen, war stets gleich. Die Formen der Kekse waren genau vorgeschrieben. O ja, sie schmeckten herrlich! Aber sie schmeckten alle Jahre gleich. Denn sie wurden ja alljährlich nach den gleichen, von den Urgroßeltern überkommenen Rezepten gebak- ken. Einen Adventkranz hatten wir nicht. Aber es gab auch bei uns die vielgerühmten trauten Dezemberstunden, in denen Du uns die vorgeschriebenen Geschichten erzähltest. Hansel und Gretel begegneten dem Weihnachtsmann, Engel fuhren auf silbernen Schlitten durch tiefverschneite Winterwälder, und Frau Holle schüttelte die himmlischen Federbetten. Wir gingen auf den Christkindlmarkt und bekamen an bestimmten Ständen bestimmte Dinge. Ich will es nicht leugnen, liebe Mutter: In diesem schönen Regelmaß lag eine Kraft, lag ein Erziehungswert, den ich erst heute ganz verstehe. In den härtesten Kriegsjahren, als es nicht mehr möglich war, das Zeremoniell ungebrochen zu wahren, ließest Du uns Kinder sowenig als möglich davon merken.

Dann kam der Heilige Abend. Wir wußten allmählich ganz genau, wie alles ablaufen würde. Der Klang der Glocke zur festgesetzten Stunde, der Christbaum in der bestimmten Größe, mit den köstlichen Lichtem in abgemessener Zahl. Als wir längst nicht mehr an das Christkind glaubten, hüteten wir uns doch stets, den Zauber durch ein ungehöriges Wort zu zerstören. Mächtig, groß und heilig war die Familientradition — und wunderbar war ihr schützendes Walten. Die Krippe war kein Kunstwerk. Wir wußten das, aber niemand hätte ein Wort dawider gewagt. Die ererbte Erhabenheit rückte alles in die Sphäre des Heiligen und Unantastbaren. Das Denken an den im Kriege fernen Vater wurde in die Feier des Abends miteinbezogen, als lägen die Regeln auch für diesen Fall längst in den Archiven bereit. Die Zeit und die Art der Speisen standen fest. Und fest stand auch der mitternächtliche Gang zur Kirche. Im Advent hatten wir sie nicht aufgesucht. Da gingst Du manchmal allein, während des Krieges. Vielleicht war gerade deswegen das lateinische Hochamt in der Christnacht stets der Höhepunkt der Erlebnisse. Wir waren sorgfältig gekleidet. Wir hatten feierlich zu grüßen. Die langen Gesänge prägten sich meinem Gemüt tief ein. Weihnachten wurde zur prächtigen Erfüllung eines alle Jahre wieder abgezirkelten Plans. Die Melodien und Düfte, die Worte und die Geschenke, alles war so gütig und schön in der Ordnung verwurzelt, die von der Krippe ausging, ohne sie zu erklären. Und indem Du mir diese heilige Ordnung gabst, liebe Mutter, gabst Du mir alles, woran ich mich halten konnte und sollte. Ich begreife wohl, wie schmerzlich es für Dich sein muß, zu erleben, daß ich heute gegen diese Ordnung aufbegehre.

Als ich nämlich meine eigene Familie gründete und das hochheilige Fest nahte, da geschah etwas MerkwüAiges. Meine junge Frau brachte von daheim fast dieselben Traditionsvorschriften mit. Wir bereiteten alles mit Würde und Ruhe vor. Wir leierten als jung vermähltes Paar allein. Der Christbaum brannte, die vorgeschriebenen Speisen standen auf dem Tisch. Wir wollten miteinander singen. Da überfiel es uns. Ich glaube, es hat damit angefangen, daß meine Frau ein Zucken um die Mundwinkel bekam. Ich sab es und mußte lachen. Sie lachte auch. Und dann standen wir eine halbe Stunde unter dem Baum und lachten, lachten und lachten. Wir hatten uns befreit. Es war zu Ende. Es ist übertrieben und herausfordernd, wenn man erzählt, wir hätten an diesem Abend den Christbaum zu Kleinholz gemacht und die silbernen Kugeln an die Wand geworfen. Wir taten das nur im Geiste. Wir drehten einfach das elektrische Licht an. Wir aßen Schmalzbrot und tranken Bier dazu. „Weihnachten“ war erledigt. Es gehörte freilich einiger Mut dazu, das am nächsten Tag auch nach außen zu bekennen. Vor allem aber wurde es schwierig, als wir unsere Kinder bekamen. Die Vorwürfe der Eltern und der Bekannten trafen uns hart. Man kann sich nicht so einfach ausschließen. Wir begannen wieder Weihnachten zu feiern. Aber wir bauten das Fest auf unsere Art. Wir waren, wie wir bald erfuhren, damit gar nicht so allein. Wir lasen Heinrich Bölls „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ und begriffen es, Wir erfuhren das zynische Wort Tucholskys, „Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern!“, wir empfanden Hans Heinz Hahnls Gedicht „O Tannenbaum, betrüge mich so süß...“. Dann lasen wir in der Bibel nach, auch bei Guardini, Pieper und Rahner. So erkannten wir allmählich, daß wir die schlechtesten Christen ja gar nicht waren, wenn wir eine bürgerlich-heidnische, kitschige, völlig überlebte Tradition abwarfen.

In diesen Jahren entwickelte sich Weihnachten in zwei Richtungen. In der Öffentlichkeit wurde es zu einem Triumphalismus größten Ausmaßes. Die Netze der elektrischen Glühbirnen wurden wie zu Fischzügen über die Straßen au9gespannt. Das Bibelwort „Und das Licht leuchtete in der Finsternis...“, dessen Bildkraft einst verständlich war, wurde absurd. Denn wo gab es noch einen dunklen Winkel, wo gab es denn noch Finsternis in diesen Wochen der Lichtinflation? Es gab auch keinen Advent mehr. Vorbereitung oder Steigerung waren nicht mehr möglich in einem Dezember, der ein unaufhörliches Schallplattenhalleluja, eine verschwenderische Feier aller Sinne war.

Das Unbehagen steigerte sich aber auch in den Kirchen und in der Kirche. Man war kein Ketzer, sondern konnte unter Umständen sogar Kardinal sein, wenn man mit den Zuständen nicht zufrieden war. Das Konzil begann, und in seinem Verlaufe wurde manch ehedem verfemter Name genannt und geehrt. Teilhard de Chardin, der es unternommen hatte, die Pläne Gottes aus der Entwicklung der Schöpfung zu deuten, bot einen annehmbaren Weg, das Erlösungsgeheimnis der Weihnacht wissend zu erkennen. Glaubendwissend, in einem bestürzend aktuellen Sinn.

Liebe Mutter! Ist es in einer solchen Stunde noch möglich, einfach nur an Traditionen anzuknüpfen und alte Ordnungen zum Inhalt der Festfeier zu machen? Ich wehre mich dagegen.

Es' sieht freilich aus, als ob mein Widerstand nur halb wäre. Zunächst der Kinder wegen haben wir Christbaum und Krippe wdedereingeführt. Aber wir verstehen sie jetzt anders. Wir befolgen keine unerbittliche Tradition mehr. Wir feiern in innerer Freiheit. Wir kultivieren unseren Protest auch nach wie vor, indem wir zu Weihnachten essen, was andere Leute nicht essen. Wir bemühen uns bewußt, im Lauf des Advents, die Ursache der Weihnachtsfreude zu ergründen. Wir möchten unseren Kindern kein starres Schema einer Pantoffelgemütlichkeit aufzwingen. Es ist jedes Jahr anders bei uns. Es geht ja nicht um Wiederholungseinübungen, sondern darum, die vielfältigen Möglichkeiten der Freude über das Erscheinen Gottes inmitten der Schöpfung Ausdruck zu geben.

Es ist schwierig, liebe Mutter! Es war viel leichter, in das Gewand Deiner Tradition zu schlüpfen. Es war leichter, sich in süßer Stimmung von der aus vielen Geschlechtern überkommenen Woge tragen zu lassen. So wie es auch viel leichter war, sich von den lateinischen Gesängen der Kirche zu erhebenden Gefühlen tragen zu lassen. Wer aber einmal durch den Nullpunkt gegangen ist, der kann nicht mehr anknüpfen. Wir müssen von vorne beginnen. Man kann das in vielen Kleinigkeiten tun. Selbst das goldene Omega, welches wir an die Christbaumspitze hängen, bedeutet uns etwas anderes als der Flitterstern von gestern. Den Kindern erzählen wir nichts mehr vom Weihnachtsmann. Zu den Engeln äußern wir uns nach Möglichkeit nicht, weil es kein populäres Bild für sie gibt.

Ist unsere Vorstellungswelt deswegen ärmer? Sind wir schwächer, weil wir uns nicht mehr wie Du in Katastrophenzeiten an eine Tradition klammern können? Klingt das deutsche Magnificat um so viel schlechter als das niedliche „Stille Nacht“? Unsere Kinder lauschen der Geschichte der Propheten mit derselben Aufmerksamkeit, wie wir einst Deinen Winterwaldmärchen zuhörten.

Wir leben trotz allen Wohlstandes doch in einer so unsicheren Zeit. Wer klug ist, hält sein Handgepäck klein und leicht. Wir wollen keine große Tradition zurücklassen oder mitschleppen. Wir wollen den handlichen, festen Kristall der Wahrheit. Er besteht nur aus dem gläubigen Wissen, daß Gott Mensch geworden ist und uns liebt. Dieser einfache Satz soll uns halten. Die Gelegenheit, es zu beweisen, kommt vielleicht eher, als Du denkst.

Verstehst Du uns, liebe Mutter? Komm zu uns und laß uns gemeinsam die Freude erleben.

Dein dankbarer Sohn

PS: Es gibt keine Adresse auf dieser Welt mehr, an die ich diesen Brief schicken kann. Du hast zu Deiner Zeit getan, was Du konntest. Deswegen glaube ich daran, daß Du jetzt an den Stätten unmittelbarer Erkenntnis bist und siehst, daß unsere Pilgerschaft durch den Kahlschlag nur ein Schritt war. Ein Schritt nach vorne. Ein mühsamer, ehrlicher Schritt. Hilf uns, den nächsten zu-finden!

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