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Abschied von Wien

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Anfang November, als ich ankam, blühten noch bleiche Rosen auf dem Aspernplatz, nun, beim Abschied im März, dunkeln die Schneewolken von Osten her. Das Wetter, schlägt um, drei- oder viermal des Tags, und der Wind, der schon das Castrum Mark Aurels umbrauste, ermüdet nie. Man ist die Abschiede gewohnt, aber so schwer ist mir selten einer gefallen; wir fahren auf der Straße zum Flugplatz, an der riesigen Totenstadt vorüber: welche Namen, die man unsterblich nennt und die hier von Jahrhundert zu Jahrhundert verhallen! Wie es immer geht: Freunde, die sich verabschieden wollen, verfehlen uns. Ich bin meiner nicht Herr: ich soll doch wiederkommen, bald, Anfang Juni schon, für die Proben in der Burg, aber mir ist, als könnte ich nie zurückkehren. Einmaliges ist vorbei, ich kann mich nicht fassen. Und dann fliegen wir, und der Flug ist immer ein Glücksgefühl fast überschwenglicher Art — und ich blicke zurück.

Das war tagaus, tagein derselbe Weg: vom Stubenring um den Koloß der Postsparkasse durch den Hof der Postverwaltung — der Durchgang verboten, aber von jedermann geübt —, in eine der alten Kirchen und dann, ins Cafe zur Arbeit: der Stuhl ist angelehnt am letzten Tisch, die Zeitungen „Le Monde“ und „New York Herald“ liegen bereit, „Sv-enska“, „Algemeen“. „Politiken“ oder den „Corriere“ oder die „Times“ bringe ich mit, der Ober, ernst und aufmerksam, spricht nie ein Wort zuviel. Gegen Mittag gehe ich über den Platz in das gegenüberliegende Cafe, wo die Ober mich schon erspäht haben. Es geht ebenso streitlos ab wie am Arbeitsplatz. Man hat hier Verständnis für die “Narrheit geistiger Existenz und serviert das kleinste Dejeuner ebenso höflich wie den Sekt, den ich freilich nie bestelle. (Inzwischen hat der Zeitungsmann drüben die letzten skandinavischen Blätter bekommen: ich lese nur noch Zeitungen, die mir Unerschöpfliches sagen von der Zeit, und Werke der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; weiter komme ich nicht mehr.)

Bastion und Vermittlerin

Ein einförmiges Dasein also, und doch ein überreich beschenktes. Ich habe nie soviel Herzlichkeit gefunden und von den fatalen Spannungen im „Fach“ hier so gut wie nichts gespürt. Mühsam habe ich mir klargemacht, daß ich, ungeachtet der gemeinsamen Sprache, in einem Geschichtszusammenhang lebte, der ausländisch ist, wie eben unser „draußen“ für den Oesterreicher. Ich lasse mir das gerne gefallen und verstehe es nicht recht, daß man etwa von Kugler oder Treitschke aus (die ohne Zweifel bedeutende Darsteller waren) das österreichische Geschichtsbewußtsein beurteilen will. Kraft der Weisheit des Duldens, Zögerns, Wartens, der Sicherheit innerer Reife, hat Oesterreich wider die Wahrscheinlichkeit einen bedeutenden Teil seines Krongutes gerettet: wenn auch der Stephansdom sein Chorgestühl und die grandiose Holzarchitektur des Dachstuhls verloren hat, so doch nicht die dichte Atmosphäre: das Grab Eugens ist unentweihtes Heiligtum, Kaiser Friedrichs III. geduldige Majestät regiert noch immer, der Minnesänger Neidhardt, Verspötter der Bauern, hat seinen Platz behalten am Singertor, und die Dienstbotenmadonna und der Zahnwehherrgott geben, wie seit Jahrhunderten, Audienz. Der Zweifel in der Kirche, die quälenden, bohrenden Fragen der Kirchenväter an der Kanzel Pilgrams, nehmen am Vorabend der Reformatiort, wie Grünewalds Altar, das religiöse Drama der kommenden Jahrhunderte voraus. Und der Wind eilt von Pannonien, vom Marchfeld her durch die Stadt, die ursprünglich, in bewundernswerter Einsicht, sich auf den von Wällen und Türmen behüteten 1. Bezirk beschränkte, den zusammengedrängten Kern unermeßlichen Lebens: hier ist man einigermaßen durch die Krümmungen der Gassen geschützt. Wer diese Grenze überschreitet, ist ausgeliefert dem Zorn, den Launen der Winde: sie zaubern für zwei Stunden föhniges Himmelblau über das gespenstische Riesenrad des Praters, indessen die Schneewolken schon unterwegs sind.

Man muß den Plan des Castrums sehen, der am Hohen Markt, unter der Erde, neben einem Stück der römischen Kanalanlage ausgestellt ist, geometrisches Konglomerat von Kasernen, die Residenz Mark Aurels, des Philosophen der Kaiserstadt, der Geschichte, der in seinem Geschichtstag alle Möglichkeiten der Geschichte erlebte. Das Castrum war Grenzburg und zugleich Pfeiler der Brücke nach Byzanz; das gehört zum Eigentümlichen der Stadt, daß sie sowohl Bastion wie Vermittlerin war. Der Ursprung ist militant, harte römische Machtgestalt, Feldlager der Stoiker, die vom Diesseits wenig, vom Jenseits nichts erwarteten. Die Welt hört.nur die Walzermelodie, aber die ist Schaum auf der Welle, bezauberndes Farbenspiel über den Abgründen der Geschichte.

Oesterreich, im Theater repräsentiert

Machen wir es uns nicht zu schwer. Ich bin zum Theaternarren geworden (was nur in Wien geschehen konnte, in Deutschland nicht). Die Theater strahlen, wurden zur Passion. Ich wage To sagen, daß die Freude eines Volkes am Theater geschichtliche Existenz ist. An Dissonanzen des Regimes fehlt es natürlich nicht. Es könnte aber sein, daß dem Wiener, dem Oesterreicher, das Zepter des Bujgtheaters erstrebenswerter ist als das Amt des Präsidenten: wer im Burgtheater regiert, ist gewissermaßen Herr der Kaiserstadt, wo der Traum ein Leben ist: Traum als Begegnung mit sich selbst. Immer wieder hat mich die Galerie der Burg erschüttert: ich verzichtete auf einen Akt und ging an den Bildern der großen Schauspieler vorüber, die in der entscheidenden Gebärde und Szene, in ihres Lebens Inhalt, erblickt wurden; ich sah über die Kaiserstiege hinab, die von keiner Majestät mehr beehrt werden wird. Ich sah ein, daß man Raimund, Nestroy, Grillpar-zer nur hier spielen kann. Werner Krauß im „Bruderzwist“, der sich mehr und mehr als das österreichische Drama durchsetzt, Attila Hör-biger als der erste Rudolf im „Ottokar“ haben Oesterreich repräsentiert. In welcher Seelennot hat sich Raimund im „Alpenkönig“ noch einmal überwunden: es ist das Thema des „Timon“, des „Misanthrope“. Aber nur Raimund hat den Vorwurf gelöst: er spiegelt sich in sich selbst, und er kennt sich; er belächelt sich. Seine Anklage ist nicht zu entkräften, aber er sieht die Fragwürdigkeit seiner selbst, des Anklägers, ein und nimmt sie zurück. Das wurde am Rande des Abgrunds gedichtet — mit Anmut und zur Freude.

Herrschaft der Anmut

Mit der Oper hatte ich weniger Glück; eine Verzauberung war die „Entführung“ im Re-doutensaal. Es war, als belebte sich noch einmal die Burg. Das war ja Oesterreich: die familiäre Macht, Mutter und Vater in Majestät,Gottesdienst und Theater im Familienhaus, und in ihm die Völker versammelt, es war — bei aller Strenge der Gesetzgebung — die humanste Form der Herrschaft und wieder die Herrschaft der Anmut, der Resignation, der Würde und Selbstironie, des Gewährenlassens, verzeihender Einsicht. Es war eine unvergleichliche Einheit: die Burg als Sitz familiärer Herrschaft, Gründung der Babenberger, die Oesterreichs Baumeister waren, das Theater Josephs II. am Michaelerplatz, die Hofbibliothek, deren Prunksaal als Ausdruck europäischer Universität von vier mächtigen Globen beherrscht wird, der Redoutensaal, die Reitschule, wo die ernsten Pferdehäupter sich neigen vor dem Bilde Karls VI., die feinen Gelenke sich ' bewegen nach Mozarts Takten, und die Kapelle, der Knabengesang, der Kaiser selbst über Notenblättern als Komponist, Leopold I., Karl VI., Joseph I.

Mir geht es hier nur um einen bescheidenen Dank, einen aufrichtigen: „Dank vom Haus Oesterreich!“, Buttlers unter „bitterem Lachen“ gesprochene Worte in „Wallensteins Tod“ gehören zu den Zitaten, die beharrlich mißbraucht werden, wie etwa „Höchstes Glück der Erdenkinder“, sie wurden im Irrtum gesprochen, Buttler widerruft sofort: „Kann mir des Kaisers Majestät vergeben?“ Der Segen, der Oesterreich durch alle Not beschützt hat, ist ungeschwächt: er wird dem zuteil, der es liebt. Burg und Staatsoper sind ausverkauft. Ich bin mit Vergnügen in die Operette gegangen. Wenn die Drehbühne unter Millöckers Melodien in der „Volksoper“ die singende Festgesellschaft, ein Volk, schwebende' Schicksale, Freude und ein wenig Trauer sachte vorübertreibt: so ist das Bild des Lebens vollkommen. Wenn im „Volkstheater“ Annie Rosar in Leck Fischers „Ausgangstag“ (aus dem Dänischen ins Wienerische übertragen) den Gang in die Nacht antritt, den Weg der übermüdeten Mutter und Frau, die ein einziges Mal, für einen einzigen Tag ihrer Pflichten ledig sein will und das doch nicht erreicht, so kommen tausend und aber tausend Frauen zu Wort, die bisher stumm gewesen sind. Aber ich war auch ein eifriger Gast der Kellertheater hinter dem Ring, wo amerikanischer Nihilismus, Geschichtslosigkeit, Asozialität glänzend gespielt werden. Und immer und immer in dieser Stadt, die wider ihre Bestimmung zur Grenzbastion herabgewürdigt wurde, in ihrem Glänze, in ihrem Elend (das sich nach Möglichkeit verbirgt), war mir ahnungsschwer zumute.

Afk N?uHedkr See *'

Der Wind jagt über den Neusiedler See, fern, im Kranze hellbraunen Schilfs, stehen die bewehrten Grenztürme, schwarze Riesengestalten. Der Tauwind brach sich Straßen durch das Eis, vom Schilf abgelöste Kristalle wirbeln und tanzen darüber hin, die Gänse verbergen sich im Röhricht, die Störche, auf die in Rust und Oggau ungezählte Nester warten — zwei oder drei auf demselben Haus, jeder Schornstein ist besetzt —, sind noch nicht angekommen. Der Herr Dechant in Neusiedel führt uns in seinen Keller (nachdem wir schon im Speisezimmer über Durst nicht zu klagen hatten). Hier liegen die Fässer sauber in zwei Reihen wie trächtige Kühe; die freundlichen Schwestern des Gastgebers erklettern sie mittels einer beweglichen Leiter und setzen den Heber an, den sie geschultert hereintrugen wie der Erzengel die Lilie. Die Gewölbe wurden um die Türkenzeit gebaut: was stob hier vorüber, Ungarn, Türken, die Sieger der letzten Schlacht; was entschwand und was ist noch da! Stoßen wir an, noch einmal und wieder, GretI Wiesenthal, Winterschmetterling, unsterbliche Tänzerin, Kristallflocke über dem Neusiedler See!

Könnte ich wieder nach Eisenstadt, für eine Woche, ich könnte mich zurückverwandeln in einen sogenannten Poeten (auf dessen Titulatur ich keinen Anspruch erhebe). Das Burgenland, das schwermütig schöne, alte Ungarn, ist ein merkwürdiges Geschenk des ersten Weltkrieges an Oesterreich, wenn auch die Grenze den See durchschneidet und Oedenburg ausschließt. Aber Eisenstadt, das gelbe Schloß der Esterhäzy, Haydns ernstes, abgekehrtes Arbeitszimmer, die Bergkirche, das Mysterium eines unterirdischen Kalvarienbergs — ein Maulwurfsbau der Mystik, österreichischer Kyffhäuser —, haben es mir angetan. Hier ist Haydn vor einigen Jahren wieder zu seinem Kopf gekommen — vielleicht käme ein Wanderer, der alle Aussicht hat, am geahnten Völkergeschick zugrunde. zu gehen, wieder zum Traum. Haydn in seinen Mannesjahren, in dem. kleinen Museum zu sehen: ein ernstes, großartiges Gesicht. Und über dem kleinen, umsponnenen Hof, auf den er so viele Jahre blickte, öffnet sich die Weite der Welt: ruhmreiche Abende in London, Nelson und die Lady, Schubert, Beethoven kamen vorüber. Hier, unter Glas, liegt das erschütternde Abschiedswort: „Der Greis.“ Der Wein schmeckt ihm nicht mehr. Es ist zu Ende.

, Ehrwürdige Erscheinungen

Die Herren der Atombehörde führen laute Klage über den Mangel an Wohnungen und deren Preis; man „würze“ sie; einer der hohen Beauftragten wünscht, in einem Biedermeierpalais zu wohnen. Wenigstens Teile der vermutlich weitverzweigten Institution sind in der Burg untergekommen. Kaiser Atom? Ach, nein. Der Kaiser ist ja noch da. Es fehlt kein Edelstein an den Heiligtümern der Schatzkammer, an der Krone Konrads des Saliers, am Schwurkreuz, am Evangeliar, an Rudolfs I. kunstreicher Krone, edlem Zepter, am späten Herrschermantel des lombardo-venetischen Reiches, für das Radetzky stritt; die Wappenröcke der Herolde sind unversehrt. Die Kleinodien ver-strahlen sich unter Glas. Aber es findet sich viel Ehrfurcht unter den Beschauern, immer wieder, so oft ich dort war, traf ich Mütter, die ihren Kindern das Unsagbare verständig vermittelten.

Die anderen, die nicht lieben, gehen vorüber. (An der Garderobe will man kein Entgelt annehmen für meine Mappe, in der ich stets meine Handarbeit mit mir führe: „Ach, nein, von Ihnen nicht.“)

Unermeßlicher Reichtum der Begegnungen, des Menschlichen, Geisteswelt der Gesellschaft,die nur um Aristokratie sich bilden kann. In der Kirche des Deutschen Ordens ertönt der freudig-feierliche mittelalterliche Marsch, während die Erzherzöge zur Ehreninvestitur schreiten. (Die Rache der Erzherzöge, der verarmten Fürsten, ist vollendete Form, unbeirrbare Höflichkeit.) Ob ich denn glauben könne, daß die Weltgeschichte viel vor sich habe, fragte der alte Fürst ... beim Empfang des Ordensmeisters. Ach, nein, das glaube ich nicht. Und die greise Fürstin ... in dem geretteten Palais: „Ich habe sechs Söhne verloren und ... Was ich jetzt noch besitze, kann ich nicht mehr verlieren.“

Mir sind solche Erscheinungen ehrwürdig. Ich möchte nicht später geboren sein. Ich möchte keinen der großen Namen überleben. Was ihre Träger wirkten, was sie verfehlten, habe ich nicht zu untersuchen. Ich verneige mich im Vorübergange. Es ist mir unsagbar schwer geworden, hinaus nach Schwechat zu fahren, an der Totenstadt vorüber, zum Hugplatz.

Man kann Oesterreich nur verstehen als Mysterium, in der Kapelle Leopolds des Heiligen, vor dem Verduner Altar in Klosterneuburg, in der Kapuzinergruft, unter den Fahnen Dauns, in Grillparzers Sterbezimmer, in Mayerling, in der Reitschule, vor der Bewegung der feinen Gelenke, im Redoutensaal, in Ehrfurcht vor der in der Schatzkammer personifizierten, der anwesenden Majestät.

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