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Abschied von Wien

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Ein Abschied von Wien fällt immer schwer. Auch wenn die nächste Station Paris heißt. Denn Wien ist eine so menschliche Stadt, das heißt, eine Stadt, in der Freude und Verstimmung, Natur und Kunst, Großzügigkeit und kleinliches Greißlertum, Lebenslust und Lebenstraurigkeit eng beieinander liegen wie nur in einem menschlichen Leben. Wien ist keine Stadt der Gegensätze, sondern der Geschlossenheit, auch wenn bei Empfängen in Schönbrunn noch nach spanischem Zeremoniell verfahren wird, während gleichzeitig am 1. Mai über die Wiener Ringstraßen die roten Fahnen wehen wie sonst nirgends mehr in der westlichen Welt. Über beides sollte man sich nicht wundern, nicht über den livrierten Diener' mit dem Oberhofmarschallstab aus der Schatzkammer und wicht über die klassenkämpferischen Parolen auf der Ringstraße. Beides hat einen gemeinsamen Nenner: den Sinn für ein Bewahren des Überkommenen.

Es braucht seine Weile, bis man Wien begreift. So zirka ein bis drei Jahre. Und auch da gilt: manche 1er-nen's nie. Es gibt, so meine ich, drei Phasen der Wien-Erkenntnis. Die Phase eins ist die der Touristen. Wer nur kurz und in Ferienstimmung nach Wien kommt, findet hier alles herrlich und wonderful. Die wackeligen Marmortischchen, den bummeligen Verkehr, die trübe Lampe im Hotelzimmer. Zu Hause ließe sich das ein Deutscher niemals bieten. In Wien stört ihn das nicht. Im Gegenteil. Er ist entzückt, verzückt und findet es nett und typisch, weil es seiner Klischeevorstellung entspricht. So und nicht anders will er es haben. Im winkeligen Wien erholt er sich von seiner eigenen Stahlbeton-Rechteckigkeit.

Wer länger als nur einige Urlaubstage in Wien verbringt, gerät in die Phase zwei. Die Urlaubsverklärung weicht grimmiger Ernüchterung. Es beginnt damit, daß man die Marmor-tischchen nicht mehr nett und „echt wienerisch“, sondern nur noch wak-kelig findet. Man empört sich darüber und über noch vieles mehr. Man entdeckt, daß durchaus nicht jeder Wiener ein charmanter Willi Forst ist, sondern daß neidische Fremdenfeindlichkeit im goldenen Herzen der, ach, so heiteren „Wie-nerleut“ durchaus ihre Heimstätte haben kann. Man ärgert sich entsetzlich über tausend Unzulänglichkeiten, über das endlose Selch- und Rindfleisch auf den Speisekarten, deneh das Gemüse und die frischen Salate fehlen; über die vielen kleinen Lädchen mit der geringen Auswahl; über die Umständlichkeit, mit der sieben Millionen Menschen in neun Bundesländern regiert werden — man ärgert sich über alles, wünscht diesem Staat alles Schlechte.

Manche kommen — ich weiß es — über diese Phase nicht hinaus. Die dritte Phase der Wien-Erkenntnis, die der tieferen Einsicht, bleibt ihnen leider verschlossen. Diese dritte Phase beginnt mit der Ahnung, daß in Österreich zwar andere, aber keineswegs schlechte Maximen für' die Art zu leben und für die Politik gelten. Man beginnt, den Österreicher zu sehen, und man hört auf, ihn zu übersehen. Man merkt, daß österreichisches Wesen nicht mit Begriffen wie „Gemütlich“ und „Walzer-könig“ zu fassen ist. Ein Deutscher vor allem entdeckt, daß zwischen ihm und den Österreichern einige fundamentale Unterschiede bestehen, also Unterschiede von den Fundamenten aus, von der Geschichte, der Tradition und von der Mentalität. Gewiß soll man hier nicht übertreiben und so tun, als sei den Österreichern und speziell den Wienern das Deutsche so fern wie das Chinesische. Solche Töne klingen manchmal auf. Sie sind wohl nur als Überkompensation des „38er“-Erlebni9ses zu verstehen. Ich halte Wien wirklich nicht für eine deutsche Stadt, sondern für eine österreichische. Aber ich bin halt in meinen sechs Wiener Jahren mit Deutsch ganz gut durchgekommen.

Die Gemeinsamkeiten sind da. Die Unterschiede liegen ebenso auf der Hand. Jedes Verwischen ist genau so töricht und lächerlich wie iede Übertreibung. Der Deutsche beispielsweise denkt gern entweder — oder, der Österreicher hingegen stets sowohl — als auch. Der Deutsohe hat immer beide Augen fest auf ein Ziel gerichtet und sieht deshalb manchmal den Graben nicht, in den er fallen kann. Ein Österreicher hat immer nur ein Auge aufs Ziel gerichtet und das andere auf den Weg, der dahin führt. Der Deutsche hat in seinem Gehirnkasten Rechtecke, geometrische Bauklötzchen, mit denen er sich seine Welt konstruiert, die dann manchmal mit der Wirklichkeit nicht ganz übereinstimmt. Der Österreicher hat im Kopf Nierentischchen oder irgendwie verschlungene Gebilde, was ja auch der Anatomie des Gehirns entspricht und menschlich ist.

Den Satz aus der Geometrie, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, überträgt der Deutsche gern auch auf Bereiche des alltäglichen und gar des politischen Lebens. Der Österreicher ist überzeugt, daß manchmal sehr wohl die Krumme die kürzeste Verbindung sein kann. Wenn es heißt: „Das müssen wir mal grundsätzlich klären“, dann darf man sicher sein, daß man sich in einer Versammlung Deutscher befindet. Österreicher haben nicht den selbstmörderischen Drang nach grundsätzlicher Klärung. Sie lassen die Dinge lieber in der Schwebe, im sowohl — als auch.

„österreichische Lebensklugheit“ ist ein großes Wort. Aber es gibt sie. Ich habe sie oft beobachtet und bewundert. Und manchmal überlege ich, ob man nicht gewissen Deutschen zwei Jahre Österreich ärztlich verordnen könnte.

Und damit bin ich bei der Politik, bei Ost-West, dem Donauraum und all dem, was einen politischen Journalisten in Wien tagtäglich beschäftigt. In Wien wird man darauf gestoßen, daß Mitteleuropa zwei Koordinaten besitzt, die es bestimmen: den von Süden nach Norden fließenden Rhein und die von West nach Ost strömende Donau. In dem um den Rhein organisierten Europa hat man das in den letzten 20 Jahren manchmal vergessen. Doch auch Osteuropa hat sich schuldig gemacht. Es glaubte 20 Jahre lang, sich unter dem neuen, roten Etikett von der Geschichte des alten Europa beurlauben zu können. Auch diese Exklusivität war schädlich.

Jetzt beginnen beide Seiten, sich wieder langsam aneinander zu erinnern, wobei den Österreichern ihre geschichtliche Erfahrung zugute kommt. Dabei wissen die Österreicher — was ich immer bewundert habe — immer haarscharf zwischen Ideologie und Staatsräson zu unterscheiden. An ihrer klaren Ablehnung des Kommunismus als Heilslehre haben sie und ihre Regierung nie den geringsten Zweifel gelassen Aber sie zwicken, wenn es um staatspolitische Dinge geht, den russischen Bären nicht dauern in den Schwanz — um es mit den Worten Julius Raabs auszudrücken.

Bis 1918 war Österreich der politische Geschäftsführer Europas an der Donau. Aus dieser Erinnerung heraus, aber auch wegen seiner geographischen Lage und seiner Neutralität übt der Gedanke von Österreich als einer Brücke zwischen Ost und West innerhalb und außerhalb des Landes eine Faszination aus. Tatsächlich verhält es sich damit wie mit der vielzitierten Gemütlichkeit: Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Klischee gehen durcheinander, zweifellos ein beachtlicher Treffpunkt zwischen Ost und West.

Eine Illusion jedoch ist es, zu glauben, Wien könnte auch in konkreten politischen Fragen eine Mittler- oder Vermittlerrolle spielen. Wenn — um ein Beispiel zu nehmen — die Bundesrepublik mit Rumänien oder Ungarn diplomatische Beziehungen aufnehmen will, dann braucht Bonn dafür nicht den Ballhausplatz. Es gibt heutzutage genug andere, direktere Möglichkeiten einer Fühlungnahme zwischen zwei Kontrahenten. Geistesgeschichtlich erscheint mir der Brückenglaube in Österreich als eine Art Nachfolgeidee der alten Reichsidee. Österreich war bis 1918 mehr als ein Staat; sein Bemühen, auch jetzt geistig und ideell über sich hinauszuwirken, ist verständlich und entspricht der Vergangenheit und der Lage Österreichs. Nur sollte man damit nicht zu hohe Erwartungen verbinden. Ich habe sogar den Eindruck, daß mit der zunehmenden Öffnung des Ostens und zum Osten Wien immer weniger das Nadelöhr bleibt, durch das in den fünfziger Jahren die dünnen Fäden zwischen Ost und West gezogen wurden. Die Wege werden immer direkter.

Die große Politik dieser Welt wird heute jedenfalls nicht in Wien gemacht. Daran wird auch die UNIDO nichts ändern. Und als der treffendste Titel in der Flut der Österreich-Literatur erscheint mir noch immer „Wien — Vorstadt Europas“. Er trifft genau die Doppelrolle des heutigen Wien: einmal exponierter Vorort und erster Anlegeplatz des Westens und zugleich Stadt am Rande der europäischen und Weltereignisse.

Was habe ich im Gepäck, wenn ich jetzt nach sechs Jahren Wien verlasse? Ich habe eine Ahnung von einem Land, das nach den wirren Träumen der Zwischenkriegszeit zu sich selbst gefunden hat. Ich habe die Bekanntschaft mit einem Kulturkreis gemacht, der sich mit dem deutschen vielfältig berührt, oft deckt und doch anders, nämlich um Wien, zentriert ist. Goethe sitzt als Denkmal an der Wiener Ringstraße. In natura war er nie hier. Und noch ein Erinnerungspaket: Weitung des Horizonts die Donau abwärts bis zum Schwarzen Meer.

Bekümmernde Erkenntnis: daß die Deutschen so wenig, fast nichts von Österreich wissen, obwohl sie zu Hunderttausenden hier ihren Urlaub verbringen. (Umgekehrt fährt kaum ein Österreicher nach Deutschland auf Urlaub, aber man weiß dennoch viel besser Bescheid über „draußen“.) Vielleicht löscht die Gleichheit der Sprache das Interesse am tieferen Eindringen aus. Wahrscheinlich gibt es andere Gründe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß immer noch gültig ist, was Hugo von Hofmannsthal 1915 schrieb: „Es darf... ausgesprochen werden, daß Österreich unter den Ländern der Erde eines der von Deutschen ungenanntesten oder am schlechtesten gekannten ist. Österreich liegt Deutschland nahe und wird dadurch übersehen. Es mögen auch innere Hemmungen im Spiel sein; sie bestehen zwischen den Staaten wie zwischen Individuen ... Der geistige Blick der Deutschen war im Mittelalter nach Süden, vom 16. Jahrhundert an nach Westen gerichtet. Die Ablenkung nach Südosten, durch die zwei Jahrhunderte währende Türkengefahr, blieb rein politisch und hatte verhältnismäßig geringe Kraft über die Phantasie des Volkes. Das höhere Schauen bleibt, wo nicht nach innen oder nach den Sternen, nach Westen fixiert: auf Frankreich und England.“

Daran hat sich nichts geändert, leider.

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