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Achleitner übergeht kein sehenswertes Haus

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Jeder an Architektur interessierte Spaziergänger in Österreich kann sich als Tester betätigen. Kann geradezu ein Gesellschaftsspiel daraus machen: Kenn ich ein Haus, kennst du ein Haus, das im 20. Jahrhundert entstanden ist, das es verdient, zur Kenntnis genommen zu werden - und das nicht „im Achleitner” steht? Und: Bin ich mit seiner Bewertung einverstanden? Letzteres erweist sich im allgemeinen als Prüfstein des eigenen Beurteilungsvermögens.

Jahre um Jahre vergehen vom Erscheinen eines Bandes bis zum nächsten. Doch langsam, aber sicher nähert sich der Führer „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert” seiner Vollendung. Nur noch zwei Bände fehlen. Wie seine Vorgänger, macht auch der nun vorliegende Band III/2 (Wien, 13. bis 18. Bezirk) die langsame Vorgangsweise verständlich. Dieses Werk ist eine Sysiphosarbeit. Und es ist nicht nur von wegen Thema, sondern auch als Publikation ein Jahrhundertwerk.

Allein als Katalog der zeitgenössischen Architektur eines Landes wäre es schon bedeutend genug. Seine Einmaligkeit aber beruht darauf, daß hier sozusagen eine Epoche mit ihren eigenen Kriterien bewertet wird. Unmittelbar vor dem Ablaufen des zeitlichen Bahmens - gesehen mit den Augen eines nicht nur aufgrund seines Alters für diese Aufgabe Prädestinierten. Achleitner ist dafür prädestiniert nicht nur durch sein Engagement als Architekt und seine Funktion als Professor für Architekturgeschichte, sondern auch durch sein ausgewogenes, ungemein treffendes Urteil. Auch kann er schreiben - knapp, pointiert, aufs Wesentliche konzentriert und nicht ohne Witz und Pointen.

Es ist einfach ein Vergnügen, vor und nach Wegen durch Wien in diesen kleinen, länglichen Bänden zu blättern. Dabei erfährt man auch so manches zur Geistes-, Wirtschaftsund Sozial-, und fallweise sogar zur Zeitgeschichte.

So hat es mich gefreut, bestätigt zu bekommen, daß etwa das Kongreßbad im 16. Bezirk, ein einfacher, klarer Zweckbau, auch architektonische Qualität habe. Daß es in der NS-Zeit Zentrum einer Widerstandsgruppe war, habe ich jetzt erst erfahren.

Aufgrund der bearbeiteten Bezirke bilden die Villen der bevorzugten städtischen Wohnlagen einen Schwerpunkt dieses Bandes. Daher liefert er auch interessantes Material zur Sozial-und Geistesgeschichte der mittleren und oberen bürgerlichen Schichten, dokumentiert deren von Unsicherheit gekennzeichnete Mentalität, ihre Anlehnung an „verläßliche” Vorbilder, aber auch die engen Grenzen, die Bauherrengeschmack, Bauherrenvorsicht, vor allem den im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in Wien arbeitenden Architekten zogen.

Andererseits aber findet man in diesem Band auch die architektonischen Lebenszeichen einer neuen, offeneren Mentalität. Auch wenn Wien alles andere ist als ein besonders fruchtbarer Boden für klare, dem Leben und nicht der -Bepräsentation verpflichtete Architektur, ist hier doch so manche sehr ansehnliche Arbeit der letzten Jahre und Jahrzehnte für die Wohnzwecke privater Bauherren zu finden.

Der Band enthält so prominente Objekte wie etwa die beiden Villen Otto Wagners sowie - mit einer die damalige Situation erhellenden Beschreibung - dessen Steinhof-Kirche, Boland Bainers Stadthalle, mehrere Häuser von Adolf Loos, das Haus von Josef Frank in der Wenzgasse, das Schönbrunner Palmenhaus oder die einst exemplarische, aber kaum mehr als Meisterwerk erkennbare Villa von Ernst Plischke in der Penzinger

Straße. Bitterer Kommentar dazu: „Das Haus darf im heutigen Zustand weder von außen besichtigt noch fotografiert werden. Dies ist auch nicht nötig.”

Ein wichtiger Schwerpunkt sind die Gemeindebauten. Bedrückend der Kontrast zwischen stilbildenden Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit wie dem von Vicor Reiter in der Speisinger Straße (84 - 98) und dem öden Mittelmaß der frühen fünfziger Jahre, das auf seine Weise ebenfalls stil(ver)bildend wirkte.

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