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Achtung! Fertig! Los!

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EIN SCHUSS! Der weiße Strich wird zum auswärts gekrümmten Bogen, bekommt eine Spitze, schnellt vorwärts, fegt die Längsseite des Platzes hinunter. Gleich aneinandergereihten Perlen Hinken bald darnach helle Punkte von der unteren Bahnkurve. Mein Nachbar nimmt nach einem Blick auf seine Stoppuhr das Fernglas und setzt es sogleich ab. „Union voran!“ sagt er. „Für einen Trainingsstart so zeitig im Jahr riicht schlecht!“ Wieviel er gestoppt habe, möchte ich wissen. „Nun, raten Sie einmal!“ lautet die Antwort. Die Erinnerung rückt weit in die Wende der zwanziger Jahre zurück. Man sieht sich mit gewöhnlichen Turnschuhen am Rand einer primitiven Sandbahn im Fasangarten nächst Schönbrunn stehen, nach einer Reihe ermüdender Ausscheidungsläufe von Schulkameraden als Bester mit dem üblichen jugendlichen Stimmaufwand gefeiert. „Ich bin die hundert Meter in vierzehn Sekunden gelaufen — also rate ich hier auf zwölf.“ Mein Nachbar wiegt den Kopf. „Wir hier sind bei den ersten hundert Metern nur um drei Zehntelsekunden hinter der Vorjahrsbestleistung von 10,6 zurückgeblieben — es war damals auch ein Union-Mann.“

DEN JUBEL UM DIE BESTLEISTUNG hört man, die Bilder von Sportereignissen kennt man. Aber was steckt dahinter? Starkult? Auslese? Oder doch eine Breitenentwicklung? „Von der Breite zur Spitze“, sagt man mir. Und: „Entartung, die durch egozentrische Sportauffassung und schiefe geistige Formung des Charakters zwangsläufig entsteht, sich im Starkult ■ ergeht, lehnen wir ab. Die Österreichische Turn- und Sport-Union betreibt Leibesertüchtigung um ihrer ideellen Ziele willen. Ausschließliche Pflege einer Sportart schließt Gefahren in sich. Also möglichst vielseitig sein! Und zugleich mit dei körperlichen Ertüchtigung die Formung der geistigen und sittlichen Kräfte auf einer Grundlage fördern, die durch alle Schichten unsere-Volkes geht! Die Union erstrebt nicht Höchstleistungen allein an, vielmehr in erster Linie vollwertiges Menschentum. Das heißt: im Beruf, in der Familie, in der Lehre, in der Schule da? Beste wollen, wie im Sport. Gemeinschrft hier,

Gemeinschaft und Leistung als Staatsbürger.“ Wenn man abends in einem hellerleuchteten Turnsaal steht, wie wir zuerst in der Hainburger Straße, wenn vier Riegen plötzlich sich ordnen, Riegen, in denen Schüler, Gewerbeschüler, Jungarbeiter, Handelsangestellte und Beamtensöhne nebeneinanderstehen und auf ein Kommando uns zum Empfang aus Dutzenden Kehlen der Sportgruß entgegenschmettert, wenn man dann die intensive, hingebungsvolle Arbeit an den Geräten und mit dem Ball sieht, begreift man, daß hinter den theoretischen Grundsätzen ein Tatwille steht.GESPRÄCHE MIT DEN JUGENDLICHEN, Gespräche mit den Vorturnern. Was sofort auffällt, ist die Disziplin, die Kameradschaft, das Fehlen jedes spöttischen Wortes, wenn einmal etwas danebengelingt. „Altes Herz wird wieder jung“, sagt neben mir der Bundesreferent für das Pressewesen der Union, Professor Dr. Josef H o r n u n g. Ja, man fühlt sich wieder jung, sieht man die Mädchen und Burschen in der ersten Sporthalle in der Hyegasse beim Basket hin und her flitzen. „Basket“, sagt mein Nachbar, „da stellte die Union oft den Meister. Letzthin gegen ASK Laibach hat sie sich tüchtig gehalten.“ Von der Landstraße fahren wir zum Kai, hinüber zum Dianabad. „Aus der Siegerliste möchte ich nur den Vierten der Weltrangliste 1950 über 110 Meter Rücken, Helmut

Koppelstätter, den in der europäischen Spitzenklasse befindlichen Otto Mayer, im Schmetterling und unsere Turmspringer, alles Schwimm-Union-Wien, nennen. Heute haben wir allgemeinen Abend. Sie sehen keine Spitzenkönner - aber dafür die Breitenentwicklung, welche Vorbedingung für Höchstleistungen ist“, sagt der Trainer am Bassinrand. „Jugendabteilungen gibt es bei der Union insgesamt 2455.“ Platsch! macht es neben uns bestätigend! Crawler werfen sich in die Strecke, daß das Wasser bis zu unseren Zehenspitzen spritzt. „Die Schwimm-Llnion zählt gegenwärtig zu den besten europäischen Schwimmvereinen. Leider ist die Fragf der Hallenschwimmbäder ein betrübliches Ka pitel. In Wien gelingt es der Union überhaur nicht, zu annehmbaren Zeiten in den Gemeinde bädern unterzukommen, dort haben die Askc Schwimmvereine den Vorrang.“ Ein Nebenstehender wirft ein: „Auch in anderen Sparten mißt man in Österreich mit verschiedenem Maß. Und draußen in den Gemeinden! Da ist es zuerst wichtig, welche Partei den Bürgermeister stellt. Oder welchen Betriebsrat ein Industrieunternehmen hat!“ Ein dritter, der eben zu uns tritt, sagt: „Wissen Sie, was uns für Donnerstag von 19.30 bis 21.30 und Freitag von 18.30 bis 20 Uhr die Miete des Dianabades je Monat kostet? 7000 Schilling!“ *

WÄHREND MAN DIE POKALE, die Wimpel, die Medaillen und Diplome anschaut, welche die Angehörigen der Union errungen haben, schwirren Zahlen und Namen vorbei. 36 Fachsparten, 649 Vereine mit 3896 Sektionen, 163.284 Mitglieder, 8810 Übungsleiter, Helfer und Trainer, so hört man. Und beim Blättern in Photoalben begegnen wir plötzlich einem bekannten Gesicht: Traudl Hecher, Union-Schwaz, Bronzemedaille beim Abfahrtslauf in Squaw Valley, Siegerin beim Kandahar in Sestriere, der Sensationsname unserer Tage, würdige Nachfolgerin einer Dagmar Rom, Erika Mahringer, eines Egon Schöpf. Dahinter steht mit viel Verzicht auf Privatleben erfüllte, ehrenamtliche Arbeit. Von ihr wissen deT Bundesobmann Anton Marousek, sein Stellvertreter Dr.. Nikolaus Frcek, der Bundesfachwart Franz Fedra und sein Stellvertreter Anton Weghofer und die Bundeskulturwarte Hans Fuchs und Geistlicher Rat Franz Hofstaetter sowie der Bundesjugendwart Hans Stur viel zu erzählen. Erfreuliches und — Unerfreuliches.

DENN AUCH SCHATTEN MUSS MAN AUFHELLEN. Es gibt zuwenig Sportplätze. 30 sind in den letzten Jahrzehnten verlorengegangen. Es fehlen die zentralen Turnhallen. In Wien kam es vor, daß bei der Neuherrichtung einer Schule der Turnsaal wegblieb, in Niederösterreich gibt es viele Neubauten ohne Turnhallen, in Salzburg-Lehen droht ein Turnboykott, weil die Jugendlichen zum Turnen eine drei Kilometer vom Schulplatz entfernte Halle aufsuchen müssen. Die Turnsäle sind Samstag und Sonntag, an den wichtigsten Tagen, nicht benutzbar, an .den anderen Tagen müssen sie schon um 21 Uhr geräumt werden. Die Gemeinde Wien verlangt an Benützungsgebühr vom Verein pro Stunde bis .19 Uhr 4 S, nachher 6.50 S. Der Bund überbietet: bis 19 Uhr 6.75 S, nachher 10 S. Dazu kommen „Reinigungsgebühren“, pro Stunde 10 S, und wo Bäder oder Duschen vorhanden sind, überdies bei zweimaliger Besitzung im Monat 75 S.

IN ZEHN PUNKTEN hat die Union ihr Wollen zusammengestellt. Die Kernsätze lauten: Die Österreichische Turn- und Sport-Union bekennt sich zu Österreich als ihrem Vaterland. Sie will in der ]ugend die Liebe zum österreichischen Vaterland stärken und vertiefen. Sie ersfrebf charakterfeste und leistungsfähige Österreicher, die sich der Sendung ihres Vaterlandes bewußt sind. Sie erfüllt ihre Erziehungsaufgaben grundsätzlich überparteilich und fordert von ihren Angehörigen selbstlose Kanteradschaft und soziales Handeln. Die Österreichische Turn-und Sport-Union bekennt sich zur christlichen Weltanschauung und verlangt von ihren Mitgliedern Achtung vor religiöser Überzeugung und Betätigung. Durch den internationalen Kontakt leistet die Union gerade durch die Körper und Charakter, Geist und Gesinnung bildende weltoffene Haltung einen wichtigen Beitrag zur Annäherung der Völker und zum Frieden Europas, für den letztlich der Wille der Jugend und das gegenseitige Verständnis Garantie sein werden. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Vertretung der Union in der „Föderation Internationale Catholique d'Education Physique“, der FICEP, von Bedeutung. Das Auftreten der Österreicher bei der 60-Jahr-Feier der Föderation Sportive de France vor zwei Jahren in Paris: als ein imposanter Zug die Champs-Elysees hinuntermarschierte, voran die Tiroler in ihren Trachten, als beim Grabmal des Unbekannten Soldaten der Kranz niedergelegt wurde, richteten sich die Blicke breitester Öffentlichkeit auf die Union. I

DIE „UNION“ steht also weltanschaulich auf sicherer Basis christlicher Weltanschauung und treuer österreichischer Gesinnung. Politisch überparteilich, wird sie aber dennoch einmal als „liberal“, das andere Mal als „schwarz“ verschrien. Man hat kein Verständnis für die Errichtung von Vereinsheimen („Wir müssen unsere Abende in einem Wirtshaus abhalten“, sagte mir ein Vereinsmitglied), aber Parteilokale, das ja! Während selbst in den Reihen der Volkspartei stehende Eltern es zulassen, daß ein Kind bei der Union, das andere bei einer „freiheitlichen“ Vereinigung turnt, „pflegen“ führende Männer der Volkspartei ihre Beziehungen zum national-liberalen österreichischen Turnerbund (ehemals „Deutscher Turnverein“). Dort, wo man 1938 schnell vergessen hat, sonnwendfeuert und jult es, daß die deutschen Eichen nur so brausen... „Wir haben es erlebt“, sagte mir in einer Turnhalle im 9. Bezirk Wiens ein Mann, „was diese Auslegung des Begriffes Toleranz zur Folge hat, noch dazu, wenn man auf die Unterstützung jener großzügig verzichten zu können glaubt, derer man sich sicher fühlt.“ Aus diesen Worten und so manchen anderen, die ich zu hören bekam, sprach kein sportlicher Neid, nur die Sorge um das Morgen angesichts des Buhlens um die Ewiggestrigen. Wie oft im Jahre hört man das: „Achtung, fertig, los!“ Zuweilen möchte man hinzufügen: Wohin? Slalom auf Brettern — da werden bei Unachtsamkeit oder mangelndem Training oder falscher Einschätzung des Geländes oft Torstangen umgerissen. Wenn die Politik das Gelände falsch einschätzt, kann es .mehr geben als umgerissene Torstangen.

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