Acqua Alta

19451960198020002020

GERHARD ROTH SCHICKT SEINEN HELDEN NACH VENEDIG: AUF EINE NACHTMEERFAHRT DER PARANOIA.

19451960198020002020

GERHARD ROTH SCHICKT SEINEN HELDEN NACH VENEDIG: AUF EINE NACHTMEERFAHRT DER PARANOIA.

Werbung
Werbung
Werbung

Venedig-Romane gibt es wie Sand am Lido und viele davon haben sich auch als Verfilmungen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es ist also nicht leicht, diesem Genre überhaupt noch etwas Neues hinzuzufügen und nicht dem Klischee des "morbiden Charmes" dieser Stadt zu verfallen. Gerhard Roth hat es dennoch gewagt und den ersten Band einer geplanten Venedig-Trilogie vorgelegt: "Die Irrfahrt des Michael Aldrian" ist eine typisch Roth'sche Symbiose aus Kriminalroman und Reisebericht. Roth ist selbst passionierter Venedig-Reisender, die akribischen Recherchen zu diesem Roman sind in "Die Reisen des Gerhard Roth" von Klaus Dermutz dokumentiert.

Bevor Gerhard Roth einen seiner Helden auf die Reise schickt, macht er sich gerne selbst auf den Weg: "Wenn er für ein Buch noch keinen Plan habe, setze sich die spätere Geschichte puzzleartig erst durch die Eindrücke zusammen, die er auf der Reise erhalte." Diese Methode schlägt sich naturgemäß in der Erzählstruktur nieder: Wer nun eher auf den Fortgang der Story bedacht ist, wird sich durch die detailverliebten, enzyklopädischen Beschreibungen manchmal irritiert fühlen, wer aber -warum nicht mit dem Stadtplan vor sich? - Michael Aldrian auf seiner Irrfahrt folgt, wird tief in dieses "Modell der Welt" eintauchen und möglicherweise gerade an jenen Stellen aufschrecken, an denen die Krimihandlung blutig ihr Recht fordert. Diese stets konkrete Lokalisierbarkeit der Handlung kollidiert nur scheinbar mit der titelgebenden Irrfahrt, die den Helden hier auf eine Nachtmeerfahrt der Paranoia führt und ihn mehr und mehr von der Gesellschaft abspaltet.

Ambivalenter Held

Das Buchcover zeigt einen Ausschnitt aus einem barocken Gemälde, welches ein Knäuel von Engeln zeigt, die hochfliegen - oder auch stürzen: so genau lässt sich das vorerst nicht sagen (einen Hinweis erhält man erst in der Mitte des Romans). Als Motto sind dem Roman einige der letzten Verse aus Miltons "Paradise Lost" vorangestellt, welche die Vertreibung aus dem Paradies schildern. Beide Motive werden sich leitmotivisch durch den Roman ziehen.

Ambivalenter Held der Geschichte ist Michael Aldrian, einst ein Wunderkind mit phänomenalem musikalischen Gedächtnis, der jedoch nicht die Laufbahn eines Virtuosen eingeschlagen hat, sondern gefürchteter Maestro Suggeritore in der Wiener Staatsoper wurde, was seinem zwanghaften Perfektionismus eher entgegenkam. Außer der Oper hat er kaum Interessen -ausgenommen die Zauberei, wobei er es als Hobby-Magier zu einiger Meisterschaft gebracht hat. Unter dem Souffleurkasten fühlte sich Michael geborgen, bis ihn ein Hörsturz diesem Refugium entreißt und in die Bedeutungslosigkeit stößt.

Unter diesen trüben Voraussetzungen macht sich unser weder besonders sympathischer, noch besonders heldenhafter Held mit Neigung zum Alkoholismus auf, seinen Bruder Jakob und dessen Frau Elena in Venedig zu besuchen. Michael möchte einen Reiseführer über Venedig schreiben und hat schon einen detaillierten Rechercheplan mit im Gepäck. Die Serenissima zeigt sich in diesem Februar aber durchwegs nicht von ihrer freundlichsten Seite: Als Michael ankommt, herrscht "acqua alta", als das Hochwasser zurückgeht, folgt Schneefall, danach wälzt sich dichter Nebel durch die Kanäle und all die Maskierten wirken am Höhepunkt des Karnevals eher bedrohlich als ausgelassen.

Auch der Empfang ist verstörend: Obwohl er seine Ankunft angekündigt hat, sind und bleiben der Bruder und dessen Frau verschwunden und Michael wird gleich am ersten Abend niedergeschlagen, beraubt und mit dem Umbringen bedroht. Etwas überraschend ist, dass Michael unter diesen Umständen eisern an den Arbeiten zu seinem Reiseführer festhält und sein Besuchsprogramm wie geplant absolviert. Noch überraschender ist, dass sich mit einer Freundin seiner verschwundenen Schwägerin eine etwas spröde Romanze ergibt: Beatrice (!), Korrespondentin einer Mailänder Zeitung, wird sein Leitstern, wobei die beiden mit fortschreitender Handlung auch mehr und mehr Geheimnisse voreinander haben. Anders als bei Dante ist Beatrice zwar keine himmlische Fürsprecherin, aber dennoch bereit, für Michael bei der polizeilichen Einvernahme einen Meineid zu leisten. Aber wie kommt es überhaupt soweit?

Diverse Verstrickungen

Man würde es einem Charakter wie Michael Aldrian nicht zutrauen, doch bei der Suche nach seinem Bruder beweist er sowohl Zähigkeit wie auch schlafwandlerisches Geschick. Schon bald stellt sich heraus, dass sein Bruder Jakob, der in seiner Jugend aufgrund seiner zeichnerischen Begabung ebenfalls als Wunderkind gegolten hat, mit seiner Ehefrau offenbar ein Doppelleben geführt haben muss. Das hat ihnen zwar Reichtum beschert, die beiden aber auch in die Abhängigkeit der Mafia gebracht, von der sich Jakob und Elena anscheinend zu befreien versucht haben. Der Polizei stets einen Schritt voraus, kommt Michael seine Fingerfertigkeit als Zauberkünstler bei der Beschaffung von Informationen wiederholt zugute; doch dabei bleibt es nicht: zunehmend verstrickt sich Michael auch in schwerwiegende schuldhafte Zusammenhänge. Nicht alles in diesem Roman ist vollends gelungen: vor allem die Liebesgeschichte wirkt nicht recht glaubhaft; die Kriminalhandlung ist hingegen solide und spannend erzählt, doch die Hauptrolle spielt ohnehin jene Stadt, die sich nur mit sich selbst vergleichen lässt: "Man hat Venedig oft genug als eine Märchenstadt bezeichnet. Das stimmt nur insofern, als es nicht nur verklärende, sondern auch grausame Märchen gibt", lässt Roth den realen Direktor Zorzi von der Biblioteca Marciana sagen. "Das venezianische Gehirn [ ] hat selbstverständlich zwei Hälften. Die eine speichert historische Ereignisse und Lügen [ ], die andere ist das Reich der blühenden Phantasie, der Kunst, der Religion [ ]. Beide Gehirnhälften kommunizieren miteinander, daher ist es schwer, ein objektives Gesamtbild zu gewinnen."

Die Reisen des Gerhard Roth Erkundungen eines literarischen Kontinents Von Klaus Dermutz S. Fischer 2017 288 S., kart., € 12,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung