6657767-1959_39_08.jpg
Digital In Arbeit

Adler im Sand

Werbung
Werbung
Werbung

BEIM BAHNHOF VON ALA sitzt ein dunkelhäutiger Mann und zeichnet mit einem dürren Ast, der die Form eines Säbels hat, in den Sand etwas, das wie ein Vogel mit ausgestreckten Schwingen aussieht. Mit einiger Phantasie könnte man ihn für einen Adler halten. Ich schaue dem Mann eine Weile zu und frage, was die Zeichnung bedeuten soll. Er wirft mir einen schiefen Blick zu und pfeift eine Tanzmelodie, bevor er in gebrochenem Deutsch antwortet: „Das ist Adler.“ Also nicht schlecht geraten, denke ich. Der Mann setzt fort: „Paßt zu Ala. Ist römisch. Latein. Legionen!“ Nun, fürwahr, ein streitbarer Gruß auf der Fahrt von Verona nach Bozen! Mir kommt zwar vor, daß der Adler zwei Köpfe trägt, aber das kann eine verständliche Erinnerung sein in der einstigen Grenzstation der Monarchie, wo Gebäude und Laderampen heute nutzlos überdimensioniert dahindämmern. Latein, Legionen! Im Heer der alten Römer war Ala der Name der zwei Teile des zu einer Legion gehörigen Truppenkontingents der Bundesgenossen. Der Mann da neben mir wußte allerhand. Er erklärte sogar später, daß eine Ala an Stärke der römischen Legion ungefähr gleichkam. Schließlich stellte sich heraus, daß der Adlermaler auf Arbeitssuche war, aus der Nähe von Ascoli stammte, als Techniker zuletzt für die Levantemesse in Bari gearbeitet hatte. Der Verdienst war ihm dort zu gering gewesen, und man gab ihm den Rat, „per Bolzano“ zu gehen. Das machte er in Etappen ab, saß jetzt in Ala und malte römische Adler und erwartete — das sagte er so nebenbei —, daß er über bald seine Familie nachkommen lassen könnte. Die Wohnung sei ihm bereits sicher zugesagt. Die drei Bambini würden sich freuen. Ob ihm das Fahren ins Leere nicht gewagt vorkomme, fragte ich. Der Mann aus der Nähe von Ascoli staunt über diese Frage.

CREDERE, UBBIDIRE, COMBATTERE. Wahrhaftig, man staunt. Da stehen die alten faschistischen Schlagworte an einer alten Hauswand. Der Mörtelputz rund um die drei Worte scheint doch aus neuerer Zeit zu stammen? Die Zuversicht des Mannes unten in Ala ist gut untermauert. Für ihn persönlich, versteht sich. Im Zeitraum von 1945 bis 1956 inzwischen hat die zweite Siebenjahrperiode begonnen wurden in Bozen 6788 Wohnungen mit 25.784 Räumen gebaut bzw. nach Kriegsschäden wiederhergestellt. Sechs Prozent davon erhielten die Einheimischen. Man braucht nur nach einem Jahre wieder nach Bozen zu kommen, und erkennt die Umwelt auf alten Wegen kaum mehr. Aber noch ein anderer Eindruck macht sich mit dem Abstand von 1958 bis 1959 geltend, nicht aus Stein und Mörtel, nicht aus Stahl und Beton. Das ist die Stimmung. Sie schlägt einem freilich nicht aus den Autobussen der Reisegesellschaften entgegen, wo Bozen nur ein Haltepunkt auf der Fahrt nach den Dolomitenpässen oder weiter südwärts ist und mit einem Schluck Wein in den Keller der Erinnerung gespült wird. Diese Stimmung verkündet sich auch nicht von den Vorgärten der eleganten Kaffeehäuser aus, wo jeder dritte Gast Ansichtskarten schreibt. Durch die grauen Gassen der Altstadt, in den Winkelhöfen, über die noch immer zu findenden Ruinen aus der Kriegszeit, zwischen den Tischen der Südtiroler Gaststätten, über die begierig ergriffenen ausländischen — vorweg österreichischen — Zeitungen, die von Hand zu Hand wandern und in merkwürdig gedämpftem Ton kommentiert werden, schleichen Mißtrauen und Verbitterung. „Wir warten und warten — worauf?“ sagte mir ein Architekt, der mir die Wohnbauten gezeigt hatte. „In meinem Stand - lesen Sie den letzten Ausweis der Berufskammer nach — stehen nahezu 80 Prozent Italienern 20 Prozent Einheimische gegenüber. Mein früherer Schulkollege, der uns vorhin grüßte, lehrt im Gymnasium. Der Mann hat Museumswert, denn er ist einer von den etwa 20 Lehrern höherer Schulen, die 150 Italienern gegenüberstehen. “

AUF DEN RITTEN führt vom Waltherplatz die Zahnradbahn nach Oberbozen und Klobenstein. Im Rückblick kann man wie vom Virgl oder auch vom Reichsrieglerhof am Ende der Guntschnabahn das unorganische Wachstum Bozens, das Auseinanderfallen landschaftsgebundenen Stils und der Industriezone mitsamt den kolonialen Wohnbauten beurteilen. Der gelbliche Dunst der Fabriksschlote, die, ungeachtet des dauernden Defizits, dank staatlicher Subventionen über dem Gelände des Stahlwerks, den Hallen des Aluminiumwerks und dem Magnesiumwerk weiterrauchen, ist zu dünn, um das zu verbergen, was sich unten als Hohn auf alle Wirtschaftlichkeit abspielt. Den Rohstoff Bauxit für das Aluminiumwerk etwa muß man aus Süditalien, vom Monte Gargano, in den äußersten Norden schaffen — und zwar mit dem Schiff nach Venedig, von dort mit der Bahn zur Vorbereitung nach Bozen, und nach der Verhüttung wieder nach Ober- und Mittelitalien zurück. Für die Lancia-Werke ist der Weg von Turin nach Bozen auch nicht gerade kurz und billig. Aber dafür gibt es ja günstige Kredite, die nicht aus volkswirtschaftlichen, sondern nationalen Gesichtspunkten zugeteilt werden; dafür gibt es Transporterleichterungen und tarifarische Machenschaften; dafür gibt es auch Steuerbegünstigungen. Oben auf dem Ritten und drüben gegen Jenesien sitzen an alten Wegen und Straßen die Bauern. Es ist übrigens ein einmaliger Fall in Europa, daß der sich aus der Landwirtschaft ernährende Teil der Bevölkerung in Südtirol während der letzten 50 Jahre gestiegen ist von 60 auf 70 Prozent, während er woanders überall zurückging für das italienische Sprachgebiet liegt der Anteil bei 37 Prozent. Diese landwirtschaftliche Bevölkerung muß mit einem Nettoeinkommen je Jahr und Kopf von 317.000 Lire gleich 13.000 S auskommen, wogegen der Durchschnitt bei den anderen Berufen bei 34.000 S liegt. Die 70 Prozent dürfen mit einem Drittel dessen auskommen, was Zugewanderte vom ersten Tage des Herkommens verzehren.

DER BAUER BEI MITTELBERG läßt seinen Buben, der etwa zehn Jahre sein mag, vorausgehen. Ich wundere mich, was für einen schweren Sack das Kind auf dem Rücken trägt. „Das ist nicht viel“, sagt der Vater, „was unsereins auf dem Rücken heutzutag’ tragen kann." In das Gesicht des frühzeitig Gealterten sind tiefe Furchen gezogen. Sie sind Zeichen wie die Spuren im Stein bei der Kirche von Mittelberg, wo von früher her man noch Räderrillen im Fels erblickt — ging doch im Mittel- alter die fahrbare Straße nicht durch die Eisackschlucht. Die Bewilligung zur Abhaltung eines Marktes in Lengstein ist sogar von Friedrich I. Barbarossa Anno 1177 gegeben worden: „Mer- catum in Villa, quae dicitur ad Sanctam Ottiliam Lengenstaine in Monte Ritthen habendum con- cessimus…" Was er sich wünsche, frage ich den Mann. „Frieden und Arbeit für meine Leut’“, lautet die Antwort. Die beiden älteren Söhne sind heute noch ledig. Die Beschränkung auf die kleinen Landwirtschaften und die weitgehende Ausschaltung vom sozialen Aufstieg der übrigen Familienmitglieder innerhalb der Fabriken und des öffentlichen Dienstes wirkt sich verheerend aus. Der gesamtitalienische Durchschnitt weist 11,16 Prozent Ledige aus, in der Provinz Bozen sind es aber mehr als 20 Prozent und damit übertrifft sie alle Regionen. Die Folgen sind nicht abzuschätzen.

VOR HUNDERT JAHREN hatte Meran schon 9000 Kurgäste. Die Stadt, in deren landesfürstlicher Burg noch immer das Wappenschild Altösterreichs mit den fünf Aaren zu sehen ist. war wie Karlsbad ein Spiegel des Reiches, zu dem damals noch Venedig gehörte. Was ist heute davon übriggeblieben? Unsere Bahnen führen einen direkten Wagen nach Meran — vielleicht ist es ein Sinnbild angestammter Bande. Die Straßen an der Passer aber widerhallen vorwiegend vom Deutsch unserer westlichen Nachbarn. Als ich das letztemal in Meran war, hatte der Bahnhof geflaggt, und auf die Frage nach dem Grunde antwortete man mir, das gelte dem Tage des Sieges, und zwar dem des zweiten Weltkrieges. Am Abend wurde die Fahne, ohne daß sich von den Umstehenden jemand umsah, von einem Bahnbeamten mittels einer Leiter wieder eingeholt. Die von Siegesfeiern sichtlich mitgenommene Flagge wird vermutlich im November wieder verwendet werden. Auf dem Bahnhofvorplatz steht ungerührt von Tagesgeschäftigkeit das Denkmal Andreas Hofers mit der Inschrift: „Für Gott, Kaiser und Vaterland."

ÜBER SALURN flimmert die Sonne. Man steigt aus dem Zug, der sogleich weiter nach Trient rollt, und blickt sich um — und sieht sich allein. Rechts, am Weg zum Ort, gleich die Reste eines zerstörten Wohnhauses, als wäre eben die Woge des Krieges darübergerollt. Ist wirklich Friede, fragt man sich auf dem einsamen Weg zur Kirche, auf der über der Uhr die Jahreszahl 1853 steht. 1 85 3 - damals waren die Lombardei und Venetien noch österreichisch. Heute ringt man um Salurn. Zwei Frauen gehen vorüber ohne aufzuschauen. Wohin geht ihr Blick?’ Und dann stehe ich auf dem kleinen Friedhof vor dem Grabe des Mannes, dessen Todestag sich heuer zum 30. Male jährt: Doktor Josef Noldin. Er hat dem faschistischen Verbot des deutschen Privatunterrichts getrotzt und wurde am 23. Jänner 1923 nach Lipari verbannt. Als Todgeweihter kehrte er zurück, abgelehnt wurde das Zulassungsgesuch als Rechtsanwalt, abgelehnt die Ausreise zur Kur nach Karlsbad. Da liegt der unbeugsame Streiter um das Recht seines Volkes an der Sprachgrenze wie ein ewiger Wächter unter der blanken Heimaterde, ein einfaches Holzkreuz darauf mit den Anfangsbuchstaben des Namens und der Jahreszahl 1929. Und eben in dem Augenblick, da ich dem Kreuze nähertrete, beginnen die Glocken von Salurn zu läuten. Dunkel, schwer und drohend.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung