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Ärzte unserer Zeit

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Ein praktischer Arzt, der in den USA lebt, berichtet von seinem Beruf in einem Werk, dem er die folgenden Sätze voranstellt: „Ich widme dieses Buch den Männern und Frauen des Berufes, dem anzugehören mein Stolz ist.“ In der Einleitung sagt er: „Ich habe in Ausübung meines Ärzteberufes einige tausend Ärzte und etwa 30.000 Patienten kennengelernt... Fast alles, was in diesem Buche geschieht, hat sich tatsächlich ereignet. Indessen trugen sich die dargestellten Ereignisse zu anderen Zeiten und an anderen Orten zu, auf andere Weise, und sie betrafen andere Personen.“ Doch atmet das ganze Buch Lebendigkeit, es ist eine dichterisch geformte Geschichte des ärztlichen Standes in unserer Zeit, vermehrt durch Rück-blendungen. Denn seit 200 Jahren sind alle Männer der einen hier dargestellten Familie Ärzte gewesen. Das ist die „Dynastie“, die sich in verschiedenen durch Charakter und Wirksamkeit sehr stark voneinander abweichenden Persönlichkeiten verkörpert. Die drei letzten Generationen werden im Ablauf ihres Geschickes bis zu ihrem Tode dargestellt.

Die jungen Mediziner sitzen zum erstenmal im Hörsaal. Hören wir, wie der hochberühmte Professor zu ihnen spricht: „Sie sind hier, um Ante zu werden. Warum aber wollen Sie Ärzte werden? Manch einer von Ihnen hätte wohl kaum eine gültige Antwort auf diese Frage bereit . . . Ihr Schlaf wird unterbrochen werden, Sie werden Ihre Mahlzeiten unregelmäßig und verspätet einnehmen . . . Gnadenlos werden Sie jedem Trottel ausgeliefert sein, der Halsweh hat oder dem die Nase läuft. Patienten werden Sie mißbrauchen und schmähen, werden Ihnen auf die Schulter klopfen oder Sie bedrohen und werden vergessen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Die meisten Menschen weichen ansteckenden Krankheiten aus. Sie aber werden sich solchen Krankheiten beständig aussetzen.

Normale Menschen meiden den Anblick und den Geruch von Blut, Eiter, Gallensaft, Urin, Faeces und Brand. Sie aber werden bis zum Ellenbogen hinauf in diesen freundlichen Substanzen wühlen, Ihr Leben lang. Und da wollen Sie immer noch Ärzte werden? Darf ich fragen: Warum? Natürlich gibt es für alles das eine Entschädigung. Sie haben einen vornehmen Beruf gewählt, einen stolzen Beruf, einen Beruf, der das Beste, was in Ihnen steckt, zutage fördert. In einer Welt, die hauptsächlich von unnützen Feiglingen bewohnt wird, haben Sie nützlich und tapfer zu sein. Während die meisten Menschen hier ihr Leben vergeuden, werden Sie Ihr Leben für die Mitmenschen einsetzen. Für einen Mann mit Intelligenz, Mut und Geschick gibt es keine Beschäftigung, die sich mit dieser vergleichen ließe.“

Einen reizvollen Teil des Buches bildet die Schilderung, wie der überbeschäftigte Schwiegervater seinen unerfahrenen Schwiegersohn und Kollegen in die verwirrend vielgestaltige Praxis des Landarztes einführt. Auf Lumpen liegt ein kleines Mädchen mit Diphterie. Der nächste Patient ist eine Alte mit „chronischer Hypochondrie“. Jeder Körperteil stellt seine Symptome zum Krankheitsbild. Dann erscheint noch ihr Mann und verlangt, daß der Arzt eine Kuh, die Kolik hat, behandeln soll. Daran schließt sich der Besuch bei einem Kranken, der an den Folgen einer Krebsoperation leidet. Und so geht es bei den Krankenbesuchen weiter, mit Blinddarmentzündung, Bindegewebsge-schwulst und Entbindung. Immer wieder besticht ans in dem außergewöhnlichen Buche das Sachliche, Chronistische. Wir lesen von der zeitbedingten Entwicklung: der junge Arzt, der in die Dynastie hineingeheiratet hatte, „war so mit Routinearbeit überlastet, daß er kaum dazukam, sich mit theoretischen Fragen zu befassen“. Und später dann sagt Knickerbocker dies:

„Das Zeitalter der Wundermedizinen hatte mit den Sulfonamiden begonnen, aber die Sulfonamide waren doch bestenfalls mit Makel behaftete Wunder: unzuverlässig, giftwirksam, begrenzt in der Heilkraft.“ Mit unerbittlichem Einsatz der gesammelten Erfahrungen geht es weiter, scharf gewürzt durch Sarkasmus: „Das Penizillinzeitalter brachte den Spritzendoktor hervor ... Zahlreiche Patienten bildeten sich ein, ein Medikament tauge nicht, wenn es ihnen nicht injiziert wurde ... Jedes Ding hat seine Kehrseite. Die Ärzte mögen geschickt sein, aber auch die Bakterien bleiben nicht hinter der Zeit zurück. Besonders widerstandsfähige Bakterienstämme überwanden das Penizillin, gediehen geradezu durch Penizillin. In den Laboratorien waren Wissenschaftler dahinter her, immer neue und bessere Antibiotika zu entwickeln. In den Körpern der Patienten taten die Bakterien das ihre, sich den immer neuen und immer wirksameren Antibiotika anzupassen. Es war der reinste Rüstungswettbewerb.“

Knickerbocker liebt es, mit voller Absicht die Dinge zuweilen ein wenig zu verzerren und zu übertreiben. Damit gelingt ihm, was er tatsächlich wünscht.

nachdrücklich, wenn auch mit einem kleinen Umweg, die Wahrheit zu bezeugen. Spricht er davon, daß durch die Krankenversicherungen der Papierverbrauch erschreckend gestiegen ist, so drückt er sich so aus: „Viele Ärzte verbrachten jetzt mehr Zeit damit, Formulare auszufüllen als Patienten zu untersuchen. Die Feder wurde noch mächtiger als vordem die Nadel, die ihrerseits mächtiger blieb als Skalpell und Stethoskop.“

Was gibt uns Knickerbocker in die Hand? Ein Lehrbuch der Medizin? Eine Kampfschrift für oder wider eine Auffassung des ärztlichen Berufes? Nein, weniger oder in gewissem Sinne mehr. Einen nahrhaften und köstlichen Extrakt der umfassenden Erkenntnisse eines klugen Arztes. In der anmutigen Gestalt eines Romanes erscheint vor uns eine Chronik, eine höchst ernstgemeinte, tiefgreifende und zugleich paradox gewürzte, sehr anregende Chronik des Standes der Mediziner, seiner Wandlungen und der alten und neu auftauchenden Probleme der Praxis, ungemein fesselnd und belangreich für jeden, der an dem Wirken der Ärzte Anteil nimmt.

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