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Aix-en-Provence

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Nach einer scharfen, mehrstündigen Autofahrt durch den kühlen Herbstmorgen gewahrten wir eine kreisrunde, ziemlich große Baumanhäufung, die sich fast wie ein mitten in die Ebene gestellter Wald ausnahm Eine dichte Baumallee, deren ehrwürdige Häupter sich domartig zueinanderneigten und umschlossen, nahm uns auf. Fast neugierig verlangsamte sich unsere Fahrt und plötzlich, ehe wir es recht gewahr wurden, rundete sich unser Blick und das Bild verwandelte sich in jähem Moment. Mitten drinnen sprudelte eine Wasserfontäne, von unsichtbarer Kraft gestoßen, ihre Strahlen zu merklicher Höhe, als wollten die Wasser mit den Bäumen wetteifern. Wir sind in Aix, das wie eine Oase in der Provence daliegt. Rund um den Platz entwickelt sich ein Leben, das fast an orientalische Geschäftigkeit gemahnt. Berge von Pfirsichen, Obst, kardinalroten Paradiesäpfeln und Gemüse sind hier aufgestapelt zu einer Zeit, wo man zu Hause und in anderen Städten Europas mit der Lebensmittelkarte in der Hand rechnen und zählen muß. Es ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Sind wir in einen verlorenen Winkel der Welt geraten? Nein, bloß in ein Städtchen, das ein überaus fruchtbares Hinterland besitzt, das nicht nur dem Auge wohltut, sondern ein Gefühl der Ruhe, Sicherheit und Behäbigkeit erweckt.

Dazwischen bewegen sich Scharen junger Menschen, Burschen und Mädchen, Aktentaschen, Bücher und Hefte unter die Arme geklemmt, lachend und kauend und noch dazu eine Tüte Obst bei sich tragend. Richtig — Aix ist ja die Universitätsstadt von Marseille. Die juridische und philosophische Fakultät haben heute wie ehedem hier ihre Heimat. Und der Cours Mirabeau wird von hin und her wandelnden Studenten und Studentinnen ebenso wie die aneinandergereihten Bars bevölkert. Da stehen im Dunkel der wuchtigen Bäume die alten Patrizierhäuser, ein bis zwei Stockwerke hoch, ihre Balkone, von Kariatyden getragen, still und vornehm gegen die Straße abgeschlossen und nach rückwärts in breite Gärten sich ausweitend, wo das eigentliche gesellschaftliche Leben seiner Bewohner sich abspielt.

Unwillkürlich fällt mir jene Episode des jungen Mirabeau ein, der durch diese Straßen als junger Edelmann schritt und dem stillen Städtchen den Stempel seines Feuergeistes und seines Trotzes aufprägte, auch wenn ein Skandal dadurch entstand. Wie hätte er es auch anders erreichen können, jene Frau zu erringen, die er wollte, die Mademoiselle de Marignane. Sein vulkanischer Charakter oder, wie ihn sein Vater als Jungen schon genannt hatte, der „Sturmwind“ wußte sich zu helfen. Eines morgens erscheint er auf dem Balkon jener besagten Mademoiselle im Nachthemd angetan und spricht auf die Vorübergehenden hinunter, benimmt sich wie der Herr des Hauses und dem erscheinenden Hausherrn läßt er die Wahl zwischen dem Jawort und einem Skandal. Vielleicht ist Heiraten auch eine Sache des Temperaments. Bei Mirabeau war sein Leben selbst fast nur Temperament und dieses Aix, von dem ein Zeitgenosse sagte, es wäre so groß wie seine Tabatiere, war erfüllt mit seinem langen Ehestreit, aber es hat ihn auch zu den Generalständen nach Paris entsandt. Dort konnte er seine großen und außerordentlichen Ideen entwickeln, die vielleicht das Königtum gerettet hätten, wenn, ja wenn er sich selber treuer, nicht bloß ein großes Fanal, ein großes Rednergenie, sondern ein genialer Politiker gewesen wäre.

Die dunkle Allee der Straße läßt die heiße Sonne der Provence nicht durch, die hier sogar den Septembermorgennebel noch einmal mit aller Kraft durchbricht. So wie die Natur in harten Gegensätzen wirkt, so übertragen sich diese auf die Menschen. Ein Geheimnis des Südens.

In diesen Gedanken stehen wir vor dem antik anmutenden Geriditsgebäude, wo die großen Marseiller Prozesse ausgetragen und die Appellationen verhandelt werden. Auf kleinem Raum ist der Geist des Südens zusammengedrängt, arbeitet und schafft das Recht und bestimmt die kleine eigene Welt. Hier liegt sie, abgeschlossen von allem geschäftigen Getriebe. Man braucht sich bloß vorstellen, man stünde vor der Börse in Marseille — und man weiß den sich äußerlich wie innerlich darstellenden Unterschied. Wieso kommt es, daß zwei Städte mit so diametral verlaufenden Seelen, wenn man so sagen kann, unmittelbar nebeneinander liegen können? Irgendwo in der Vorgeschichte glaube ich die mir verständlichste Erklärung gefunden zu haben. Die Urbewohner dieses Landstriches, die Ligurer, waren mit den benachbarten hellenischen und phönizischen Fremden in geistige Verbindung getreten und hatten sich ihrer Kultur allmählich angepaßt, als von Norden die Keltenstämme hereinstürmten und ihre Staaten aufrichteten. Das Charakteristische war nun, daß die Kelten das Zentrum des Staates, der militärischen Macht und des geistigen Lebens nie mit dem des Handels zusammengelegt haben, sondern beide stets getrennt hielten. Wir finden in der Provence selbst Beispiele genug. Ein solches Städtepaar war eben Aix und der Meereshafen von Marseille. Rom erkannte die strategische Bedeutung von Massilia und benutzte die Gelegenheit, als es von den phönizischen und hellenischen Handelsherren gegen die Kelto-Ligurer gerufen wurde, sich dort festzusetzen und blieb nach einem dreihundertjährigen Kampf Sieger. Aix jedoch bewahrte seine Eigenständigkeit, seine Festung und blieb Bollwerk und Hort der eigenen Tradition.

Heute denken viele gar nicht mehr daran, auf welch alten Fundamenten das intime Leben der Stadt ruht, die den vielen plätschernden Brunnen ihren Namen verdankt: Aquae Sextiae von jenem Konsul her, welcher die heißen Quellen zu schätzen und zu benützen wußte und auch sie dem Imperium Romanum einverleibte. An dieser Stadt haben wahrlich die Jahrhunderte gebaut. Die alte Kathedrale vom Allerheiligsten Erlöser ist der sinnfällige Ausdruck. Durch den Kreuzgang eintretend, stehen wir vor dem Oktogon, welches das Baptisterium, den Taufbrunnen, bildet. Hier standen die heißblütigen Provencalen, demütig das Haupt beugend vor diesem oder jenem heiligen Bischof, deren es nach der Tradition sehr viele gegeben hat, und ließen sich das Taufwasser über den Scheitel gießen. Fast ein Meter tief in die Erde hineingelassen und langsam vom Rand aus sich neigend, ist dieses antike Taufbecken. Daneben streben die gotischen Säulen zur Höhe, die nicht in dunkler und geheimnisvoller Mystik sich treffen, sondern im scharfen Licht der südlichen Sonne sich schneiden. Hier ist kein Mysterium, das die Verborgenheit liebt, sondern Klarheit und Maß halten die letzten Konturen und Linien für unser prüfendes Auge bereit. Hier ist die cathedra, der Sitz des Bischofs, der Ordnung und absoluten Geistigkeit, die über das Denken und die Leidenschaften der Menschen ihr unbestechliches Urteil spricht. Sie stürmt nicht zum Himmel, sie reißt nicht mit, sie beurteilt und verurteilt nüchtern und wuchtig-entschieden wie die Regeln des römischen Rechtes.

Noch einmal nimmt uns die Vergangenheit gefangen, wenn wir an den Namen des Königs erinnert werden, der von hier aus das Königreich Provence in stiller Sicherheit regierte, Rene der Gütige. Sein Standbild, mit einem der zahllosen Brunnen verbunden, wirkt wie so manches andere an diesem Ort wenig stilvoll. Dafür entschädigt aber das Auge und unser Formgefühl die hohe und doch in sich gefestigte Kirche zu Ehren des heiligen Johannes von Malta, die hier an den einst berühmten Malteserorden erinnert, dessen Zeichen und Wappen am heutigen Museum der Stadt noch prangen. Jetzt ist dies alles Vergangenheit, die einlädt zum Träumen und

Phantasieren. Es reiten keine Ritter mehr durch die Stadt, es ziehen nicht die Scharen abgemagerter und halbtoter aus der Gefangenschaft befreiter Christensklaven mehr nach dem Konvent, um dort in Bruderliebe aufgenommen zu werden und das nahe Marseille ist nidit mehr der Ausgangspunkt zu tollkühnen Fahrten, die hier hinter schützenden Mauern und von bewaffneten Mannen ausgeheckt wurden. Das Leben ist scheinbar menschlicher geworden. Die sichtbaren Gegensätze mindern sich, es wurde alles bürgerlicher.

Deshalb hat aber das Leben hier seinen Reiz nicht verloren. Wir müssen ihn nur suchen, weil er nicht sosehr an der Oberfläche und im Gegensätzlichen liegt, sondern im Besinnlichen. Aix ist das Herz der Provence geblieben, das es immer war. Mag es in seiner Jugend- und Manneszeit im stürmischen Rhythmus geschlagen haben, heute schlägt es ruhig und bedacht, fast sanft, doch nicht minder kräftig. Cezanne ist der Maler und gleichzeitig der Entdecker der stillen Stadt geworden, die trotz ihrer lebendigen und oft lauten Vergangenheit nicht müde, nur würdevoll geworden ist, die sich in nichts vergibt, auch wenn gutgesinnte Bürger des vergangenen Jahrhunderts sie gelegentlich mehr verunzierten als zierten. Nach wie vor ist sie die Herzkammer des provencalischen Geistes und hält allen Lärm und alle Vergänglichkeit bloßer Eintagsdinge weit von sich ab.

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