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Akenteuer in Wien

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Ich flog einige Monate nach Ende des zweiten Weltkrieges nach Wien, dieser zauberhaften Stadt, die ich früher so gut gekannt und so sehr geliebt hatte. Seit dem Morgen, an dem das Flugzeug mich auf dem Flugplatz abgesetzt hatte, wurde mir immer schwermütiger zumute. Im Bristol war nichts frei, und das Zimmer, das man schließlich für mich in einem trübseligen Haus an cfer Kärntner Straße fand, war kaum möbliert und nicht geheizt. Zum Mittagessen gab es nur Gemüsesuppe und eine Scheibe dunkles Kartoffelbrot.

Als ich mich nachmittags bei schneidendem Wind auf meine Besichtigungsrunde begab, vorbei an dem beschädigten Stephansdom und den Trümmern des Opernhauses, sank mir das Herz noch mehr. Das Kaunitz-schlössel in Hietzing, wo ich mit Paul von Zsolnay und Franz Werfel so fröhlich gegessen, die Tuchlauben, wo ich im Kulturbund einen Vortrag gehalten hatte... wo, ach, wo waren sie nun? War dies die schöne, festliche Stadt, wo ich so lustige Tage und beschwingte Nächte erlebt, wo ich die Lehmann in der „Boheme“ gehört hatte und in einer offenen Droschke durch die fröhlich bevölkerten Straßen gefahren war, um den Heurigen zu feiern? Auf materielle Zerstörung, auf zertrümmerte Häuser, Gesteinshaufen verbombter Gebäude, ja, auch auf den betrüblichen Anblick der gesprengten Donaubrücken war ich vorbereitet gewesen. Ich hatte Beschädigung vorausgesehen, aber nicht diese leere, stille Trostlosigkeit, die wie ein eisiger Giftstoff die grauen, verwüsteten Straßen durchdrang.

Als sie mir in die Knochen kroch, erfaßte mich blinder Zorn, ein plötzlicher Groll gegen die göttliche Fügung, die solche Dinge zuließ. Um es noch zu verschlimmern, begann es bei Einbruch der kalten Februardämmerung zu regnen; ein prasselnder, eisiger Guß war es, der meinen Militärregenmantel, den ich über meinem Wintermantel trug, zu durchdringen drohte.

Ich befand mich jetzt irgendwo in einer östlichen Vorstadt, und um dem Regen zu entrinnen, suchte ich im nächsten Gebäude Zuflucht — in einer kleinen Kirche, die der Zerstörung entgangen war. Die Kirche war leer und fast dunkel; die Schatten wurden nur durch das schwache rote Flackern der Kerzen am Hochaltar aufgehellt. Ich setzte mich und wartete ungeduldig, bis der schlimmste Guß vorbei wäre.

Auf einmal vernahm ich Schritte, und als ich mich umdrehte, sah ich einen alten Mann hereinkommen. Er trug keinen Mantel, und seine große, steif aufgereckte Gestalt, die in einem dünnen, vielgeflickten Anzug stak, wirkte peinlich schäbig. Als er zum Seitenaltar vortrat, bemerkte ich zu meiner Ueber-raschung, daß et ein Kind in den Armen hatte, ein etwa sechsjähriges Mädchen, das ebenfalls sehr ärmlich gekleidet war. Als er bei der Brustwehr des Altars anlangte, setzte er es sachte ab. An den hilflosen Bewegungen der kleinen Glieder erkannte ich, daß das Kind gelähmt war. Indem er es mit großer Geduld stützte, ermunterte er es, zu knien, und lenkte seine Hände, so daß es sich an dem Altargeländer festhalten konnte. Nachdem das gelungen war, lächelte er es an, wie um es zu seinem Erfolg zu beglückwünschen; dann kniete er, mager und mit geradem Rücken, neben dem Kind nieder.

Einige Minuten blieben sie so; dann erhob sich der alte Mann. Ich hörte den dünnen Klang einer kleinen Münze, die in den Klin-geldbeutel fiel, sah ihn eine Kerze nehmen, sie anzünden und dem Kinde geben. Eine Weile hielt das Mädchen die Kerze in der durchsichtigen Hand; die Flamme warf einen kleinen Heiligenschein um den Kopf des Kindes und machte den frohen Ausdruck auf seinem blassen Gesichtchen erkennbar. Dann stellte es die Kerze auf den kleinen Eisenständer vor dem beschatteten Altar und bewunderte seine geringe Gabe, die es mit einem verzückten Aufwerfen des Kopfes hinschenkte.

Der Alte hob das Kind auf und trug es aus der Kirche. Die ganze Zeit, während ich die beiden beobachtete, hatte ich mich mit schlechtem Gewissen als ein Eindringling in ihre private, geheiligte Sphäre gefühlt; doch jetzt, obzwar das Gefühl blieb, ließ mich ein unwiderstehlicher Drang aufstehen und ihnen folgen.

Neben der Kirche stand ein kleines, selbstverfertigtes Fahrzeug, eine Holzkiste mit krummen Stöcken als Lenkstangen, an zwei alten Kinderwagenrädern befestigt, die längst ihre Gummireifen verloren hatten. In dieses Fahrzeug setzte der Alte das Kind und legte ihm einen Kartoffelsack über die Beine. Als ich jetzt so nahe war, konnte ich deutlich erkennen, was ich bereits vermutet hatte. Jede Linie in dem abgehärmten Antlitz des Alten, der kurzgeschnittene graue Schnurrbart, die feine Nase, die stolzen Augen unter den tiefen Brauen verrieten den echten Patrizier, einen jener vornehmen Wiener, die der Krieg ohne ihre Schuld vollständig zugrunde gerichtet hatte. Das Kind, dessen spitzes Gesichtchen Aehnlich-keit mit dem Greis aufwies, war fast sicher seine Enkelin. Als er mit seinen geäderten, schmalen Händen den Sack ringsum festgestopft hatte, schaute er zu mir herüber. Ein Schwall von Fragen lag mir auf der Zunge; aber etwas, die durchgeistigte Vornehmheit dieses Gesichtes, hielt meine Neugier zurück. Ich konnte nur verlegen sagen: „Es ist sehr kalt.“

Er antwortete höflich: „Weniger kalt, als es in diesem Winter schon war.“

Es gab eine Pause. Mein Blick kehrte zu dem Kind zurück, dessen blaue Augen auf mich gerichtet waren. „Der Krieg?“ fragte ich, immer noch die Kleine ansehend.

„Ja, der Krieg“, erwiderte er. „Dieselbe Bombe hat ihre Eltern getötet.“

Wieder eine Pause, diesmal noch länger.

„Kommen Sie oft hierher?“ Idi bereute diese Taktlosigkeit sofort, sowie sie mir entfahren war. Aber er fühlte sich nicht beleidigt.

„Ja, jeden Tag, um zu beten.“ Er lächelte matt. „Und auch um dem lieben Gott zu zeigen, daß wir ihm nicht böse sind.“

Ich konnte keine Antwort finden. Und während ich schweigend dastand, reckte er sich, knöpfte seinen Rock zu, ergriff die Lenkstange des kleinen Fahrzeuges und ging mit demselben matten Lächeln und einer höflichen Verbeugung in die herabsinkende Dunkelheit hinein.

Sobald sie fort waren, spürte ich wieder das unerträgliche Verlangen, ihnen zu folgen. Ich wollte helfen, ihnen Geld anbieten, meinen warmen Mantel hergeben, wollte ungestüm etwas Sichtbares tun. Aber ich blieb auf dem Fleck verwurzelt. Ich wußte, dies war kein Fall für übliche Wohltätigkeit, wußte, daß alles, was ich geben könnte, zurückgewiesen werden würde. Statt dessen hatten sie mir etwas gegeben. Sie, die alles verloren hatten, der Verzweiflung ausgeliefert waren, sie konnten noch glauben. Verwirrung erfaßte mich. Jetzt war kein Zorn mehr in meinem Herzen, kein Kummer mehr über die mir zugefügten Beraubungen, sondern nur Mitleid und das Gefühl tiefer Beschämung.

Der Regen hatte aufgehört. Aber ich ging nicht weiter. Ich zögerte. Dann machte ich kehrt und schritt zu dem kleinen gläubigen Leuchtfeuer zurück, das immer noch beim Seitenaltar in der nicht mehr leeren Kirche brannte. Eine einzige Kerze in einer zertrümmerten Stadt. Doch solange sie dort ihr Licht verbreitete, schien es Hoffnung für die Welt zu geben.

Aus „Abenteuer in zwei Welten“l Paul-Zsolnay-V erlag, Wien*

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