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Akteure proben die Revolution

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In Bayerns feucht-fröhlicher Landeshauptstadt tut sich allerlei: Die tornigen jungen Männer und Mädchen brachten das Zornigsein In Mode. Springer, Hochschulreform und Nolslandsgesetxe laten ein übriges. Auf Schwabings Straften und Plätzen fummelt sich ewiger Karneval (ein Passant hn normalen Anzug wirkt hier wie ein sonderbares Relikt , die Maaisfen, Marxisten und Modernislen schwingen das Banner. Münchens Klein und Kleinstbühnen, die in Kellergeschoften, manchmal jedoch auch in Etagen darüber, ihr Publikum schockieren, haben sich diese Situation zunutze gemacht. Munter und aggressiv, makaber und überdreht rollt, stampft und tanzt es mehr oder weniger gut inszeniert über die Bretter: Mift Antigone im Minikleid, Hippies nach Georg Büchner und Salome Im Tuttf frutti parodistischer Verdrehungen feiern hier Premiere.

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In Bayerns feucht-fröhlicher Landeshauptstadt tut sich allerlei: Die tornigen jungen Männer und Mädchen brachten das Zornigsein In Mode. Springer, Hochschulreform und Nolslandsgesetxe laten ein übriges. Auf Schwabings Straften und Plätzen fummelt sich ewiger Karneval (ein Passant hn normalen Anzug wirkt hier wie ein sonderbares Relikt , die Maaisfen, Marxisten und Modernislen schwingen das Banner. Münchens Klein und Kleinstbühnen, die in Kellergeschoften, manchmal jedoch auch in Etagen darüber, ihr Publikum schockieren, haben sich diese Situation zunutze gemacht. Munter und aggressiv, makaber und überdreht rollt, stampft und tanzt es mehr oder weniger gut inszeniert über die Bretter: Mift Antigone im Minikleid, Hippies nach Georg Büchner und Salome Im Tuttf frutti parodistischer Verdrehungen feiern hier Premiere.

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Aber bei launigen Unterhaltungs- manövern will Münchens Avantgarde nicht verweilen. Wasserwerfer ins Publikum bei einem Anti- Springer-Stück und Geddsammlungen für Waffenlieferungen an den Viet- kong am Ende der Vorstellung des überdiskutierten Vietnamdiskurses von Peter Weiß künden schon eine ernstere Situation.

Hauptcharakteristika der Münchner Experimentiertheater sind:

• Auflehnung gegen das Establishment. Das Theater soll aus festgefahrenen Formen befreit, einer neuen und lebendigen Funktion zugeführt werden.

• Niederreißen der sogenannten „vierten“ Wand der Bühne, nämlich jener zum Publikum hin. Dieses soll direkt angesprochen, teilweise sogar in den Handlungsablauf des Stückes miteinbezogan werden.

• Zusammenarbeit von Autor, Regisseur und Schauspieler bei Entstehung eines Stückes und Aufführung desselben.

• Bewußte Hervorkehrung und Begünstigung von Schockmomenten. Sie sollen den Zuschauer zum Denken anregen und außerdem Ventil sein.

• Abbau religiöser, politischer und sexueller Tabus.

• Schöpferische Ausnutzung der Möglichkeiten, die durch die moderne Wirklichkeit gegeben sind.

Hauptdilemma der nicht subventionierten Kleinbühnen: Gute Kräfte zu finden, trotz lächerlich niedriger Honorare (durchschnittlich 10 DM pro Abend). Wobei die Betonung auf „gut“ zu liegen hat. Denn Kräfte gibt es mehr als genug. Das geht so weit, daß der Regisseur des bereits erwähnten Vietnam-Diskurses am Werkraumtheater der Münchener Kammerspiele, Peter Stein, von einer „Ausnutzung der katastrophalen Situation der Schauspieler in München durch die Regisseure der Kleinbühnen" spricht.

Dieses Dilemma ermöglicht jedoch anders gesehen wiederum dem Experimentiertheater das zu sein, was es seiner eigentlichen Bestimmung nach ist: ein Ort der Auseinandersetzung mit dem ewig Neuen, an dem die verschiedensten Anschauungen und Ideen, Einfälle und Kombinatonen zur Verwirklichung gelangen.

Ein Besuch im anti-theater in der Isabellastraße: Durchgang kahler

Hof im hintersten Winkel, irgendwo, eine Türe (nur sehr Einfallsreiche kommen auf die Idee, daß es sich hierbei um ein Theater handelt), eine schmale Treppe ins Erdgeschoß. Die Proben sind im vollen Gange. Rainer Werner Faßbinder, 22jähriger Regisseur und künstlerischer Leiter übt mit seinem Ensemble das Improvisieren: „Liebt euch“ schallt es autoritär vom Regiepult, worauf sich die angesprochenen Minderjährigen ordnungsgemäß auf die quietschende Bettlade begeben, um sich dort abzutasten.

Das Ensemble des anti-theaters bietet vielleicht echtestes, weil ungebrochenstes und naivstes Experimentiertheater in München. Die Darsteller, zwischen 19 und 25 Jahren, gehen teilweise noch zur Schule, wenige sind Berufsschauspieler, viele hingegen Laien. Langmähnig, kurz- röckig-trotzig! Ihre „Leonce und Lena“ (Georg Büchner), „Hands up, heiliger Johannes“ (Bob Burzeson), „Die Verbrecher“ (Ferdinand Bruckner) und „Antigone“ (Sophokles), welche noch im „action theater“ zur Darstellung gelangten (offiziell wurde es wegen „lebensgefährlicher Mängel an den Stromleitungen“ An-

fang Juli geschlossen: aber die jungen Schauspieler wissen es besser: Wir waren der Stadtobrigkeit einfach zu unbequem), strotzten von ungehobelten Kraftausdrücken, blubbern im Schlamm triebbestimmter Exzesse, bieten „live“ in mehrfacher Potenz und schmücken sich darüber hinaus mit den Trophäen erbeuteter Tabus. Die erzwungene Schließung des Theaters konnte allerdings den jugendlichen Enthusiasmus des Ensembles vielleicht dämpfen, aber keineswegs zum Erlöschen bringen: Man ist bis zu der Eröffnung eines eigenen Theaters an der Isar im Herbst dieses Jahres im Büchner Theater in der Isabellastraße untergeschlüpft. Aus der politischen Einstellung der Schauspieler wird im übrigen kein Hehl gemacht („Wir stehen alle links“) und diese auch durch Stücke wie „Axel Cäsar Haarmann“, eine Springer-Haarmann-Analogie, kundgetan.

Wesentlich eleganter, man möchte fast sagen modischer, präsentiert sich das Moderne Theater in der Hesseloherstraße gleich neben dem Feilitschplatz. Die junge Prinzipalin Uta Emmer hat hier im Herzen Schwabings dem allerorten bekannten Ruf dieses Münchner Stadtteils großzügig Rechnung getragen. Sur- reale Gebilde zwischen Dali und Wiener Schule, verschnörkelt Dekoratives im Salonstil des vorigen Jahrhunderts und geometrische Basteleien zieren das Entree dieser ehemaligen Backstube, die ab September vergangenen Jahres gemietet und zu einem Theater umgebaut wurde, welches im März 1968 mit Cocteaus „Orphee“ seine Premiere feierte. Nachdem die ursprüngliche Zusammenarbeit mit dem Regisseur Kelle Riedl in Brüche ging, übernahm Fräulein Emmer das Theater in eigener Regie und verstand mit einem gewissen Charme, die sich ihr bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Vor einem ziemlich vollen Haus (was bei etwa 60 zur Verfügung stehenden Sitzplätzen allerdings nicht sehr viel bedeutet) gingen bis jetzt unter anderem „Die Tonleiter“ von Arrabal, drei Kurzstücfce von dem Griechen Dalíeggio (der auch selbst Regie führte), „Der Vampir" Lord Byrons und „Ein Eremit wird entdeckt“ von Saunders über die Bühne. Die augenblickliche Aufführung von „Salome“ nach Oscar Wilde ist bei allen Mängeln insoferne interessant, da mit einem der vorhin angeführten Hauptcharakteristika, nämlich mit dem Fallen der vierten, imaginären Wand zum Publikum hin voller Ernst gemacht wird.

Theaterbesessen und revolutionär eingestellt (allerdings nicht politisch) ist der 41jährige gebürtige Innsbruk- ker Kelle Riedl, welcher Anfang Juni dieses Jahres das Theater an der Ludwigstraße übernommen hat. Riedl leitete in den Jahren 1959 bis 1962 in Wien das Theater in der Josefsgasse. Später ging er nach

München (weil es ihm In Wien „zu fad“ war), um dort das gesamte Münchner Theaterwesen zu reformieren. Diesen Eindruck vermittelt zumindest ein Gespräch mit dem Schauspieler, Regisseur und Autor in einer Person. Sein off off theater, welches im Herbst dieses Jahres in der Barer Straße eröffnet wird, soll dem off theater guter alter Brodway- Tradition den Kampf ansagen. öffentliche Proben ab 16 Uhr in der Ludwigstraße haben das Publikum in die Geheimnisse (die keine Geheimnisse sein möchten, sollen oder können) des Bühnenlebens einzuweihen, um ihm später den Sprung in das totale Experiment zu erleichtern. Nieder mit dem Establishment, es lebe die permanente Revolution !

Die leidigen finanziellen Probleme will Riedl nach amerikanischem Muster durch die Gründung einer Ges. m. b. h. off Aktien ges. lösen.

Was Münchens Experimentierbühnen wollen, ist sehr deutlich. Was sie können, steht auf einem anderen Blatt. Aber hundertprozentige Qualität fällt wohl auch nicht in ihren Aufgabenbereich. Ein Theaterstück entsteht. Die Vollendung wird von anderen Institutionen erwartet.

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