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Algier und wir

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„Algier und wir?“ Herr Neonbiedermeier tut erstaunt. „Habe ich richtig gehört? Ja, wirklich. Aber ich bitte Sie. Bestimmt: Nichts dagegen, wenn der französische Staatschef mit seinen widerspenstigen Landsleuten so rasch fertig wurde. Kein Wort einzuwenden, wenn dies ihm binnen kurzem und beinahe ohne Blutvergießen gelungen ist — aber was geht das uns an. ' n die Franzosen mit ihren eigenen Sorgen fertig werden. Wir haben andere Dinge, über die es sich lohnt, den Kopf zu zerbrechen.“

Also sprach Herr Neonbiedermeier. Also sprechen nicht wenige Herren Neonbiedermeier zwischen Boden- und Neusiedler See. Und sie sind in ihrem geistigen Habitus nur ihrem Vorfahren allzu ähnlich: jenem wirklichen Herrn Biedermeier, dem Goethe begegnet ist und der nichts Besseres wußte für Sonn- und Feiertage, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen.“

Herr Biedermeier ist lange tot. Er starb wenige Wochen, nachdem im Februar 1848 in Paris die Revolution ausgebrochen war und die Flammen auch unser Land erreicht hatten. Seine Urenkel könnten es daher besser wissen. Was in Frankreich geschieht, geht uns alle an. Die politischen Dramen, die in Paris Premiere haben, werden auf kurz oder lang auf den Bühnen aller europäischen Hauptstädte nachgespielt. Das war gestern so, das ist heute nicht viel anders.

Algier: Das ist einmal eine rein französische Angelegenheit: Ob und wie es der Republik des Generals de Gaulle gelingt, dieser Stadt und diesem nordafrikanischen Land mit seinen europäischen Siedlern und seiner vom arabischen Nationalismus ergriffenen mohammedanischen Bevölkerung einen Frieden zu geben, der nicht nur auf der Spitze der Bajonette ruht. Algier hat aber noch eine andere Seite. Und diese verlangt unser aller Aufmerksamkeit. Was sich in der vergangenen Woche in Algier abspielte, war das Ergebnis der Selbstzersetzung einer freiheitlichen politischen Ordnung, einer Republik, einer Demokratie Tabu war lange, was die „Ultras“ taten. Mochte ihre Rede laut und öffentlich, noch so staatsfeindlich sein — immer fand sich ein hoher Herr, eine „maßgebende Persönlichkeit“, die sie schützte. Wobei es, wie so oft iii den letzten Jahrzehnten, zu einem fatalen Bündnis von Konservativen und Reaktion kam. Einem Bündnis, bei dem letzten Endes die Konservativen dann stets die Rechnung bezahlt haben.

Wie lieblich mußte doch in den Ohren französischer Konservativer das Bekenntnis des Chefideologen der Ultras in Algier, Dr. Bernhard Lefere, das dieser dem Korrespondenten eines deutschen Nachrichtenmagazins gegenüber machte, klingen: „Wir sind dabei, Frankreich unser Emblem aufzuprägen — die schlichte Lilie des heiligen Ludwig. Wir werden einen Ständestaat gründen, der nichts mit Faschismus zu tun hat, sondern auf der christlichen Religion fußt. Später — aber das hat noch Zeit — werden wir die Monarchie restaurieren...“

Lacht da nicht das Herz eines Konservativen — nicht nur eines französischen? Mitnichten, lieber Freund. Laß. dir von einem Österreicher, einem geborenen und einem gelernten, eine Geschichte erzählen. Ein Kapitel seiner Geschichte. Vor genau1 dreißig Jahren rüsteten sich jüngere Menschen, .gute Kar tholiken, um gegen die faule „Parteidemokratie“ eine „neue Ordnung“ zu bauen. Sie scheiterten. Sie mußten kapitulieren. Zuerst vor ihren von ganz anderen Vorstellungen geleiteten Bundesgenossen. Dann vor ihren Feinden. Was damals tragischer Irrtum war, wäre heute historische. Schuld!

Das ist die Warnung Algeriens an uns alle,' nicht zuletzt an unsere Konservativen und an die Jugend, die Ausschau hält nach „neuer Ordnung“ und nach „neuen Männern“: Die Freiheit, das Christentum, eine menschliche Gesellschaftsordnung können durch ein Bündnis mit der Reaktion nicht gerettet werden; mag diese sich' auch der ehrwürdigsten und der schönsten Prinzipien bedienen. Wer heute nicht herzhaft zu unserem Staat und zur Demokratie steht, gräbt auch bereits sein eigenes Grab.

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