Alles an diesem Ort stößt mich ab

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Ludwig Wittgensteins Aufenthalt in Cambridge.

In der Flut der Wittgensteinliteratur gibt es eine kleine aber feine literarische Insel der kulturgeschichtlichen Kontextualisierung dieses Denkers, der zu den bedeutenden des abgelaufenen Jahrhunderts gehört. Allan Janik und Stephen Toulmin begannen 1973 mit "Wittgensteins Vienna". Allan Janik doppelte 1998 mit "Wittgenstein in Wien" nach. Er beschreibt darin alle möglichen Schauplätze, die sich im weitesten Sinn mit Wittgenstein verbinden lassen. Ähnliches unternimmt Hans Veigl nun mit Cambridge.

Ludwig Wittgenstein ging auf Anraten Freges 1912 ans Trinity College, eine glänzende Institution, wo Newton, Milton, Marlowe, Lord Byron, Darwin, Rutherford, Keynes arbeiteten und das auf über 70 Nobelpreisträger stolz sein kann. Der erste Aufenthalt dauerte gerade bis zu Wittgensteins freiwilligem Kriegseinsatz 1913. 1929 sollte er zurückkehren.

Dabei mochte er Cambridge genauso wenig - "alles an diesem Ort stößt mich ab" schreibt er 1946 - wie Wien. Doch das Abstoßende in Wien hatte wenigstens etwas Kreatives. Einmal abgesehen von seinem Anspruch, in der Philosophie alle Probleme lösen zu wollen, was aus heutiger Sicht im besten Fall den Beigeschmack des Naiven hinterlässt, passt sein Denken zur Bescheidenheit, die man in Wien nach dem Zusammenbruch der Monarchie pflegte: sie gilt für die Arbeiten Schrödingers genauso wie für jene von Hayek, Loos, des Wiener Kreises oder der journalistischen Polemik Karl Kraus'.

Was Cambridge betrifft, hatte weder der Genius dieses Ortes einen besonderen Einfluss auf Wittgenstein, noch wurde umgekehrt Cambridge durch den Österreicher nachhaltig geprägt. Dazu war dort die Dichte der Begabungen zu groß.

Im Umgang war Wittgenstein vielen Berichten über seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zum Trotz nicht nur ein angenehmer Zeitgenosse. Er wird als schroff, humorlos und eher von sich selbst überzeugt denn als selbstreflexiv geschildert. Seine Vorstellungen von Musik, Kunst und Literatur waren sehr konservativ, was seinem generellen Mißtrauen gegenüber der Moderne entsprach. Mit solchen Charakterzügen hatte man es im liberalen Cambridge nicht leicht. Der Bruch zwischen dem Tractatus, den Wittgenstein bei seiner Rückkehr im Gepäck hatte und auf dessen Grundlage er 1929 bei Moore und Russell promovierte, und den Philosophischen Untersuchungen, war zudem Ursache für den Bruch mit Russell. Aus Ärger über diese "sterile Mystik" erwähnte Russell Wittgenstein in seiner "Philosophie des Abendlandes" mit keinem Wort.

Cambridge, das Veigl in allen möglichen Dimensionen vermisst, bot in seinem Campus eine sonderbare Mischung aus Genialität und Infantilität mit ausgelassenen Festen der höheren Söhne und Töchter. Es gab krause Männerbünde, in denen absurde Themen engagiert traktiert wurden. Wittgenstein war kurz Mitglied bei den "Apostels", stieß sich jedoch an der öffentlich zur Schau gestellten Homosexualität vieler Mitglieder.

In den Dreißigerjahren kam nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines überraschend regen Austauschs in Politik und Wirtschaft zwischen England und Hitlerdeutschland in der Champagnergesellschaft Cambridges der Marxismus in Mode, der auch Wittgenstein beeindruckte, freilich ohne dass er die einschlägigen Autoren gelesen hätte. Nur großherzige Naivität kann erklären, dass er sich am Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen über diesen Terror "nicht empören konnte".

Veigls informative tour d'horizont endet trist: mit dem "Sterben in Cambridge und anderswo", wo die Mitspieler - alt und krank geworden - sich aus dem Leben verabschiedeten. Wittgenstein selbst stirbt am 29. April im Haus der Bevans, Storeys End, im Norden von Cambridge.

Wittgenstein in Cambridge

Eine Spurensuche in Sachen Lebensform

Von Hans Veigl

Holzhausen Verlag, Wien 2004

289 Seiten, kart., e 28,80

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