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„Alptraum“ China

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Das rote China als „gelbe Gefahr“, die unsere abendländische Zivilisation barbarisch zu zertrampeln droht — das ist die zum Alptraum promovierte neue weltpolitische Sündenbocktheorie, mit der man im Westen und auch im sowjetisch beeinflußten Osten sein Unvermögen zu entschuldigen versucht, dieser Welt eine tragfähige Friedensordnung zu schenken. Politische Mathematiker wie Wilhelm Fucks „beweisen“ es uns statistisch, politische Philosophen wie Karl Jaspers mit der moralischen Autorität des ehrlich um den Frieden bemühten Weisen: China wird uns erdrücken. Was Jaspers in seinem neuen Buche über die Bundesrepublik zu dem kriegerischen „ceterum censeo“ verführt, man müsse die „für die Menschheit ruinöse, von Grund aus totalitäre und imperiale Macht“ Chinas rechtzeitig durch eine „Vernichtung“ der chinesischen Kernwaffenfabriken ihres Angriffspotentials berauben.

Ist dieser Alptraum berechtigt oder sind wir eingebildete Kranke der Weltpolitik, die sich und der Welt gefährliche Rezepte verschreiben? Die statistische Prophetie eines Wilhelm Fucks ist bestechend, aber wissenschaftlich doch fragwürdig, denn in unserer Zeit der permanenten technischen Revolution können allein neue wissenschaftlich-technische Entdeckungen und Erfindungen alle Prognosen über den Haufen werfen. Das kriegerische Friedensrezept Karl Jaspers’ hingegen wäre zumindest wirkungslos: Wollte man die Chinesen daran hindern, ihre zerstörten Kernwaffenfabriken in wenigen Jahren wieder aufzubauen, dann müßte Amerika mit seinen rund 200 Millionen Einwohnern China mit seinen rund 700 Millionen Einwohnern für Jahrzehnte besetzt halten. Das Zahlenverhältnis würde sich nur unwesentlich zugunsten der „Weißen“ verschieben, wenn sich auch die Sowjetunion an einer solchen Strafaktion gegen die „Gelben“ beteiligen würde. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Rekoloniali- sierung Chinas mit großer Wahrscheinlichkeit genau das Gegenteil dessen bewirken würde, was man damit erstrebt. Anstatt eine tragfähige Friedensordnung zu erhalten, würde die Welt wohl endgültig in weiße „Besitzende“ und farbige proletarische „Habenichtse“ aufgespalten, und es entstünde eine weltpolitische Klassenkampfsituation, die der Theorie Mao Tse-tungs — und auf unerwartete Weise auch derjenigen von Marx — recht geben und von Asien bis Südamerika die Revolution erst recht anfachen könnte.

Karl Jaspers und manche einflußreiche Kreise in den USA gehen von

einer Identifizierung Rotchinas mit dem nationalsozialistischen Deutschland aus. (Sowohl Johnson wie Rusk haben Mao indirekt mit Hitler verglichen.) Aber eine solche Identifizierung zeugt von einer ungeschichtlichen Betrachtung. Der Nationalsozialismus war letztlich nichts anderes als die neurotische Reaktion einer industriell hochentwickelten bürgerlichen Gesellschaft auf nationale Demütigung und Wirtschaftskrise. Der Maoismus ist eine soziale Revolution eines sich emanzipierenden Bauernvolkes, wie immer man die Formen dieser Revolution beurteilen mag.

Freilich: China ist ein Riesenreich mit einer imperialistischen Tradition, die auch seine neuen revolutionären Führer nicht verleugnen können. Aber dieser chinesische Imperialismus, der zweifellos eine Gefahr für den Weltfrieden darstellt — freilich nicht die einzige —, hat einen Sozialrevolutionären Akzent erhalten. Soviel echt Imperialistisches auch in den neuen Führern Chinas stecken mag, sie Sind viel zu sehr durch die sozialrevolutionäre Doktrin geprägt, als daß sie zugunsten eines blindwütigen imperialistischen Umsichschlagens ihren sozialrevolutionären Auftrag vergessen könnten. Das aber heißt, daß die Wahrscheinlichkeit, Rotchina werde um kriegerischer Abenteuer willen das Risiko einer Zerstörung des bisher im Innern verwirklichten Aufbauwerkes eingehen, gering ist. Trotz allem propagandistischen Gerede vom amerikanischen „Papiertiger“ ist China heute primär von der Furcht vor einem amerikanischen Angriff und nicht vom Willen zur Entfesselung eines dritten Weltkrieges beseelt.

Richard Löwenthal, der diese Meinung teilt, wirft in einer Kritik der amerikanischen Vietnampolitik die Frage auf, ob sich China in einem späteren Entwicklungsstadium nicht doch noch in eine direktaggressive Macht verwandeln könnte. Aber er glaubt zumindest an die Möglichkeit, durch eine realistische amerikanische Südostasienpolitik — im Sinne der Bildung eines neutralen Südost- asiens — die Grundlagen für eine wirksame Eindämmung des chinesischen Expansionswillens schaffen zu können. Und er meint, Chinas Macht werde „trotz der Explosion der ersten eigenen Atombomben noch so lange begrenzt bleiben, bis es sein Industrialisierungsproblem gelöst hat“. Das aber dauert noch Jahrzehnte, in denen die Entwicklung auch im Westen und in der Sowjetunion nicht zum Stillstand kommen wird.

Doch bei all diesen Überlegungen 1st ein Faktor unberücksichtigt geblieben, und vielleicht sogar der entscheidende: die Möglichkeit, wenn nicht Wahrscheinlichkeit innerer Wandlungen in China selbst. Revolutionen haben keinen größeren Feind als die Zeit. Die Geschichte lehrt, daß alle Revolutionen mit der Zeit an revolutionärem Elan einbüßen. Auch der chinesische „Habenichts“ wird sich mit der Zeit in einen „Besitzenden“ verwandeln. Vor kurzem noch hat man auch die Sowjetführer mit Hitler identifiziert und erwartet, sie benähmen sich wie er. Aber nicht einmal Stalin rechtfertigte in seiner Außenpolitik diese Erwartung. Heute betrachten dieselben Kreise die Sowjetunion als potentiellen Bundesgenossen gegen China. Gewiß gibt es das Phänomen

der zum Bonapartismus entartenden Revolution, aber Napoleon sah sich nicht zwei Weltmächten mit einem Kernwaffenarsenal gegenüber, das genügen würde, die ganze Erde in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Im übrigen lockt sein Schicksal nicht zur Nachahmung.

Es ist gegenwärtig in der westlichen Presse viel von einer neuen Säuberungskampagne in China und von inneren Auseinandersetzungen die Rede, von denen nicht einmal führende Parteiinstanzen verschont sein sollen. Was immer diese Vorgänge in China zu bedeuten haben, sie beweisen zumindest das eine, daß auch im Reiche Maos politische Meinungsverschiedenheiten existieren. Vor allem scheinen es auch dort „nonkonformistische“ Intellektuelle zu sein, die der Partei Sorge bereiten, und zwar Intellektuelle, die zum Teil hohe Parteiämter innehaben. Es erscheint somit zumindest nicht als ausgeschlossen, daß nach dem Abtreten der alten Führergarde, die in der Revolution großgeworden ist, wie in der Sowjetunion nach Stalins Tod eine nüchterne, weniger ideologiebesessene und mehr mit den machtpolitischen Realitäten rechnende Generation zum Zuge kommt. Vielleicht hängen die Vorgänge in China auch mit diesem zu erwartenden Führungswechsel zusammen. Vielleicht will Mao noch im letzten Augenblick die Partei so straffen, daß sein Abtreten von der politischen Bühne keinen politischen Bruch erzeugen kann.

Aber diese internen Auseinandersetzungen in China sind keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Die Partei mußte sich immer und immer wieder gegen die Kritik von Intellektuellen zur Wehr setzen. Schon 1940, mitten im Krieg gegen Japan,

mußte die Partei die bekannteste Schriftstellerin Chinas, Ting Ling, und den Chefredakteur der wichtigsten literarischen Zeitschrift, Chen Ohi-hsia, anklagen, Maos Gedanken mit bourgeoisen Ideen infiziert zu haben. Eine ganze Reihe weiterer bekannter Schriftsteller forderte von der Partei mehr Freiheit und Toleranz, was die Partei mit der unter dem Namen „Cheng-Feng-Bewe- gung“ bekannten Aktion beantwortete, die Maos Theorie einer parteilichen Kunst propagierte und die aufrührerischen Schriftsteller zur Ordnung rief.

Einen neuen Aufschwung der Kritik der Intellektuellen an der Partei erlebte man während der berühmten „100-Blumen“-Periode in den Jahren 1956 und 1957. Aber die Opposition griff auch auf den Parteikader selbst über. 1959 mußte die Partei Marschall Peng Teh-huai und das Politbüromitglied Chang Wen- tien des „Rechtsopportunismus“ bezichtigen. Seither hat „Rechtsopportunismus“ in der chinesischen Parteisprache weitgehend die Bedeutung von „Kompromißlertum“, vor allem Moskau gegenüber.

Wieder einige Jahre später begannen sich bereits erste Anzeichen der Herausbildung einer neuen Kaste von Parteifunktionären bemerkbar zu machen, die sich auf den Pfründen der Revolution behaglich ednzu- richten versuchten. Mao Tse-tung fuhr diese Leute im Mai 1963 folgendermaßen an: „Einige Genossen stehen noch immer unter dem ideologischen Einfluß der Ausbeuterklasse, verachten körperliche Arbeit und haben sich angewöhnt, nach Ruhm, Reichtum und Rang zu streben Diese Tendenz ist außerordentlich gefährlich, und die Partei muß ihr energisch entgegentreten.“

Im Herbst 1964 kam es zu einer großen, mit Leidenschaft geführten philosophischen Auseinandersetzung um die richtige Interpretation der marxistischen Widerspruchstheorie. Auch hier ging es um die hochpolitische Frage, ob man Moskau gegenüber in einem unbedingten Widerspruch verharren oder den Streit mit Moskau begraben solle. Der Hauptangeklagte war damals der bekannte Philosoph Yang Hsien-chen, ein Mitglied des Zentralkomitees und Chef der wichtigsten Parteischule. Gleichzeitig nahm sich die Partei wieder eine Anzahl Schriftsteller vor, in deren Werken man Gedanken gefunden zu haben behauptete, die Maos Lehre über den Klassenkampf in Frage stellten. Wieder handelte es sich um höchst prominente Opfer, darunter den Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes und lokalen Parteisekretär Shao Chuan-ling, den Lenin-Biographen Cho Ku-cheng und den Autor zahlreicher Bücher über die marxistische Theorie Feng Ting.

Dann kam es zu den Ereignissen vom Jänner dieses Jahres, als der Direktor der politischen Abteilung der chinesischen Armee, Hsiao Hua, mit heftigen Worten von der Gefahr einer politischen und ideologischen Degenerierung der Armee, ihrem ungenügenden Verständnis für die Gefahren des amerikanischen Imperialismus und des sowjetischen Revisionismus und überhaupt einem allgemeinen Mangel an politischem Bewußtsein sprach. Dies deutet zumindest darauf hin, daß selbst in der Armeeführung — vielleicht als Folge der außenpolitischen Rückschläge, die Peking in der letzten Zeit erlebte — nicht überall eitel Begeisterung über die politische Taktik und Strategie Maos herrscht. Umgekehrt klagt heute vor allem die Armeezeitschrift „Spezialisten und Professoren“ an, „gegen Partei und Sozialismus zu opponieren“. Falls nicht energisch zum Rechten gesehen werde, werde es „vielleicht nur einige Jahre dauern, oder höchstens einige Jahrzehnte, bis sich unweigerlich auf nationaler Basis eine gegenrevolutionäre Restauration ereignen, die marxistisch-leninistische Partei ohne Zweifel revisionistisch oder faschistisch und ganz China seine Farbe wechseln würde.“

Zum erstenmal erlebte man es weiter, daß drei Pekinger Zeitungen von einer vierten scharf kritisiert wurden, weil sie Artikel des früheren Chefredakteurs der Parteizeit- schrift, Teng To, publiziert hätten, der einen Rechtsopportunismus vertrete. Teng To wurde dabei in Verbindung gebracht mit dem bekannten Bühnenschriftsteller, Professor und amtierenden Vizebürgermeister von Peking, Wu Han, der die Parteiführung dem Klassenfeind ausliefern wolle.

Zu den öffentlich Angegriffenen gehören weiter Liao Mosha, Parteisekretär für Einheitsfragen und Journalist, sowie eine Reihe von Schriftstellern, darunter vor allem Kuo Mo Jo, der Präsident des chinesischen Friedensrates und einer der stellvertretenden Vorsitzenden des ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses sowie Präsident der Akademie der Wissenschaften.

Nun weiß man zwar viel zuwenig über die internen Vorgänge in Peking und tut deshalb gut daran, sich gewagter Spekulationen zu enthalten. Aber eines läßt sich aus alledem doch schließen: China ist nicht der monolithische, unwandelbare Block, als den man es bei uns in seinen Alpträumen zu sehen pflegt. Es gibt offensichtlich auch in China trotz der Autorität Maos Strömungen und Gegenströmungen und das heißt eine innere Entwicklung.

Das alles läßt erwarten, daß sich früher oder später auch in China Wandlungen vollziehen werden und man in der Propagierung des „Alptraums China“ wohl erheblich differenzierter sein sollte.

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