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Als Josef Roth noch rot war

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Viele Leser kennen Joseph Roth nur als den Autor der Romane „Radetzky-marsch“ und „Die Kapuzinergruft“, vielleicht noch der einen oder anderen Erzählung oder seiner Reisetagebücher. Eine umfassende Kenntnis des Rothschen Werkes hat erst die dreibändige Gesamtausgabe vermittelt, die von Hermann Kesten eingeleitet wurde und 1956 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Nun legt der gleiche Verlag einen von Ingeborg Sülte-meyer zusammengestellten und kommentierten Band mit den allerersten journalistischen Arbeiten Roths vor: Essays, Polemiken, Gedichte sowie einen 17teiligen Bericht über eine Rußlandreise. Es handelt sich um durchwegs unbekannte Arbeiten aus den Jahren 1919 bis 1927, die in Wien, Berlin und während einer Reise in die Sowjetunion entstanden sind. Nur ein einziges Stück, „Die Grenze Niegoreloje“, ist seinerzeit in die Gesamtausgabe aufgenommen worden.

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Viele Leser kennen Joseph Roth nur als den Autor der Romane „Radetzky-marsch“ und „Die Kapuzinergruft“, vielleicht noch der einen oder anderen Erzählung oder seiner Reisetagebücher. Eine umfassende Kenntnis des Rothschen Werkes hat erst die dreibändige Gesamtausgabe vermittelt, die von Hermann Kesten eingeleitet wurde und 1956 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Nun legt der gleiche Verlag einen von Ingeborg Sülte-meyer zusammengestellten und kommentierten Band mit den allerersten journalistischen Arbeiten Roths vor: Essays, Polemiken, Gedichte sowie einen 17teiligen Bericht über eine Rußlandreise. Es handelt sich um durchwegs unbekannte Arbeiten aus den Jahren 1919 bis 1927, die in Wien, Berlin und während einer Reise in die Sowjetunion entstanden sind. Nur ein einziges Stück, „Die Grenze Niegoreloje“, ist seinerzeit in die Gesamtausgabe aufgenommen worden.

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Roth begann unmittelbar nach dem Ende des ersten Weltkriegs als politisch engagierter Journalist bei der Wiener Zeitung „Der Neue Tag“, später schrieb er für den Berliner „Vorwärts“, das republikanische Witzblatt „Lachen links“ und „Der Drache“. Er stand damals in einer Linie mit Heinrich Mann und Ernst Toller und kämpfte gegen antirepublikanische und frühfaschistische Tendenzen, gegen soziales Unrecht, gegen Klerikalismus — wie er ihn damals verstand, gegen Militarismus und Nationalismus. Die freiheitliche, unorthodoxe, pazifistische, finanziell unabhängige Redaktion des „Neuen Tag“, in der auch Polgar und Olden arbeiteten, der linke Flügel der österreichischen Sozialdemokratie, war Roth sympathisch und bedeutete ihm viel. Doch bereits 1925 zeigt er sich weniger engagiert, hegt Zweifel an der Emanzipationsfähigkeit der Arbeiterklasse — und beginnt auch an seiner eigenen Sprache, vielleicht auch an seinem Talent, zu zweifeln. Eine Rußlandreise von Mitte September 1926 bis Mitte Jänner 1927 brachte die Wende. „Das Problem“, so schrieb er damals an Bernhard von Brentano, „ist hier keineswegs ein politisches, sondern ein kulturelles, ein geistiges, ein religiöses, ein metaphysisches. Es ist ein Glück, daß ich nach Rußland gefahren bin, ich hätte mich nie kennengelernt.“ Über diese Schicksalsreise berichtete er bereits für die „Frankfurter Zeitung“, später schrieb er auch für die „Neue Berliner Zeitung“, den „Berliner Börsenkurier“ und das „Prager Tagblatt“. Alle diese Beiträge zeigen einen hochtalentierten Journalisten, einen Polemiker mit spitzer Feder, dessen Produkte freilich denen eines Kurt Tucholsky oder Erich Kästner mehr ähneln, als seinen eigenen späteren Hervorbringungen. Ist dieser „frühe Roth“ nur zufällig bisher unbeachtet, ja verschollen geblieben — oder wurde er absichtlich übersehen? Jedenfalls hat man Roth damit nichts zuleide getan. Denn schon 1930 äußerte sich Roth über jene frühen Jahre nur selten, und wenn, dann schroff ablehnend. „Ich wurde Journalist aus Verzweiflung“, schrieb er später. „Man druckte meine Dummheiten. Ich lebte davon. Ich schrieb die dümmsten Artikel und erwarb mir infolgedessen einen Namen.“ Doch das stimmt nicht ganz, denn die meisten der in diesem Band vereinigten Arbeiten sind mit „Jo-sephus“ gezeichnet. Die Titel der einzelnen Abschnitte dieser Sammlung heißen „Das Antlitz der Zeit“, „Deutsche Elendsreime“, „Die reaktionären Akademiker“ (hier gibt es schon ein Pamphlet mit dem Titel „Der Hakenkreuzler“), „Bürgerliche Kultur“ u. a. Damit sind bereits die Themen von Roths Polemiken und Satiren angedeutet. Sehr merkwürdig ist es, wenn Roth zu reimen beginnt: „Wir sind die dicken Totengräber, wir mästen uns an Blut und Schorf: Es leben unsere Spesengeber, die Horthy und die Ludendorff! Wie Felsen stehn die Generale, an denen Volk um Volk zerschellt: Die Internationale — begräbt die ganze Welt.“ Es gibt hier einen versiflzierten Kommentar zu Kant, Gedichte über die Gasgranate und die „bürgerliche Kultur“. Sie alle bezeugen eine zu respektierende Gesinnung, aber noch keineswegs den Dichter. Der erwacht erst bei der Beschreibung Rußlands, dessen erste Schritte in einen neuen Tag Joseph Roth ebenso verständnisvoll wie kritisch und hellsichtig begleitet. Diese Tagebuchblätter, die fast die Hälfte des Bandes ausmachen, sind ein Dokument von bleibendem Wert und sollten von den Verächtern der UdSSR wie von ihren Apologeten mit der gleichen Aufmerksamkeit gelesen werden.

DER NEUE TAG. Unbekannte politische Arbeiten von Joseph Roth. Kiepenheuer <fe Witsch. 280 Seiten. DM 12.—.

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