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Als Lueger von uns ging

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Es war gegen sieben Uhr morgens, als der Bote in mein Redaktionszimmer eintrat: „Kommen Sie, es geht zu Ende!” Er war auf der eiligen Fahrt aus dem Rathaus schlaftrunken aus dem Wagen gestürzt und hatte sich die Schulter verrenkt. Wir alle hatten seit acht Tagen kaum mehr geschlafen. Denn wir mußten die Nächte im Lehnstuhl an den Telephonen durchwachen, weil ununterbrochen aus allen Teilen der Wiener Bevölkerung und von überall her angstvolle Anfragen um den Kranken kamen. Die letzten Wiener Kaffeehausgäste, die nicht schlafen gehen wollten, bevor sie nicht die letzte Nachricht vom Krankenbett des Bürgermeisters hatten, wurden abgelöst durch die Marktfahrer vom Naschmarkt, und dann, wenn es zu grauen begann, meldeten sich die unzähligen kleinen Volkscafes, in denen die erste Frage der proletarischen Gäste war: „Wie geht es Lueger?” — Es war beispiellos, wie tiefinnerlich das ganze Volk dieses schmerzliche Sterben miterlebte.

Ein sonniger Vorfrühlingsmorgen war angebrochen und mischte sein goldenes Licht mit dem verbleichenden Schein der Kerzen, die am Bett des dahinscheidenden Mannes standen Schon hatte sich eine sanfte Ruhe auf das auch noch vor dem nahenden Tode schöne Antlivz gelegt, die Brust hob sich in schwachen Stößen. Die letzten Worte, die Lueger am Tag zuvor zu seinen beiden priesterlichen Besuchern, dem Abgeordneten Dr. Drexel und Gemeinderat Laux, gehaucht hatte, waren in Erwiderung ihres Grußes gewesen: „In Ewigkeit, Amen!” Wir knieten erschüttert um das Bett, neben dem ein Marienbild hing, dessen Goldgrund im Frühlicht der Sonne in purpurner Lohe erstrahlte, als falle schon ein Schimmer durch die halbgeöffnete Pforte des Ueberirdischen herüber an dies Sterbelager. Eine Uhr tönte mit seiner Stimme acht Schläge in die feierliche Lautlosigkeit. Wenige Minuten später war die Seele des geliebten Mannes von uns gegangen und in schweren Kämpfen ergraute Männer weinten wie Kinder.

Von allen Türmen der Stadt trug der bronzene Chor die Kunde zum Volk: Lueger ist verschieden! Die Totenklage, die sich dann erhob, eine aus den heiligsten Tiefen des Volksgemütes kommende Klage, wird in Jahrhunderten selten einem Mann zuteil. Laut weinende Menschen auf den Straßen, alle öffentlichen Kundgebungen eine einzige Huldigung vor der Bahre des großen Wieners, Schmerz in den Sprachen aller Völker der alten Monarchie und in der ganzen Welt ein Begreifen, ß Oesterreich einen unersetzlichen Mann verloren Dann noch einmal ein feierlich rauschender Hymnus der Todestrauer bei dem Begräbnis, wie es größer und ergreifender noch keiner gesehen: Vertreter aus allen Nationen Oesterreichs im Zuge, am zahlreichsten unter den Nichtdeutschen die Rumänen und Kroaten, deren Farben immer wieder aus den Schleifen der Kranzwagen aufflatterten.

Es war eine der letzten Feiern, bei denen, noch durch keine Schranke getrennt, das vielgestaltige alte Reich in einer einzigen, gewaltigen Harmonie der Völker ertönte. Millionen empfanden es: Der da von hinnen gegangen war — er’ war die Inkarnation des höchsten österreichischen Führertums gewesen, die Hoffnung nicht nur seiner Vaterstadt, die er groß und glücklich gemacht, und nicht nur des christlichen deutschen Volkes in Oesterreich, das er zu der größten deutschen Partei, zu einer sozialreformerischen und demokratischgroßösterreichischen Staatspartei auf sicherem Grundsatzboden geeinigt hatte, sondern auch die Hoffnung der Völker, die in den politischen Wirrnissen der alten Monarchie ungerecht und am schwersten betroffen waren und auf die es doch ankam, wenn es sich um die Erhaltung des Reiches gegen die von außen drohenden Gefahren handeln würde. Der große Volksmann wurde Oesterreich genommen in einer Zeit, da der Boden Europas bereits unter den Tritten nahender, bedeutungsschwerer Ereignisse zu zittern begann. Die Habsburgermonarchie lag zunächst den wahrscheinlichen Bruchstellen. Dabei war sie im Innern tief geschwächt. Im böhmischen Landtag war die deutsch-tschechische Verständigungsaktion abermals gescheitert und die Gegensätze zwischen den beiden Nationen schienen rettungslos verwirrt; den jahrelangen Obstruktionen und den leidenschaftlichen Versuchen der madjarischen Radikalen, die Einheit der Armee und die letzten wirtschaftlichen Klammern der Reichseinheit, Zollunion und Gemeinsamkeit der Bank, zu sprengen, war in Ungarn endlich ein Ministerium Khuen gefolgt, dessen Unternehmen, die parlamentarische Erledigung einer demokratischen Wahlreform und damit auch den nichtmadjarischen Nationen Ungarns das erste Unterpfand ihrer Gleichbe rechtigung im Staate zu bringen, schon zur Aussichtslosigkeit verurteilt war. Allerlei Nachbarn, die von dieser innerlichen Zerrissenheit Oesterreich-Ungarns für sich etwas erwarteten, meldeten sich. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas, mit großem Schwung in Szene gesetzt, hatte bittere Feindschaften und Rankünen zurückgelassen, die Graf Aehrenthal im Vollgefühl des über Rußland errungenen diplomatischen Sieges mißachtete. Als er jetzt den Fehler gutmachen wollte und Verständigung mit Petersburg suchte, antwortete ihm ein höhnisches Gelächter der panslawistischen Presse. Denn die Front von’-der Adria bis Krakau war bereits gegen Oesterreich geschlossen. Es zeigten sich die Umrisse des unter russischer Führung sich bildenden Balkanbundes, dessen letzte Ziele den slawischen Süden der Monarchie ernstlich bedrohen mußten. Und zu gleicher Zeit oszillierte unruhig die Magnetnadel im Dreibund. In Racconigi hatten sich beim Besuch des Zaren geheimnisvolle Vorgänge abgespielt, welche die ohnehin schon schwer erkennbaren Ziele des italienischen Verbündeten noch tiefer beschatteten und wie eine Ermutigung zu den zahlreichen irredentistischen Demonstrationen aussahen, die überall in Italien gegen Oesterreich aufflammten. Jedermann wußte, daß es in dieser Lage nur noch eines einzigen Anstoßes bedurfte, um das Gestänge Europas aus seinen Nieten zu treiben.

Zwei Männer hatten bisher gelebt, auf die sich die Erwartungen jener vereinigten, die dieses alte Reich, ein kostbares Gefüge der Natur und der Staatskunst, liebten und noch an seine Zukunft glaubten: Lueger und der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, zwei grundverschiedene, aber starke Menschen, die sich in ihren staatlichen Reformideen zusammengefunden hatten. In Lueger hatte nun der Plan des Thronfolgers seinen ersten österreichischen Ministerpräsidenten verloren. Bald sollte die Monarchie auch ihren zweiten Mann nicht mehr besitzen.

Das tragische Ende näherte sich. Der Tod Luegers war seine erste laute Ankündigung…

„REICHSPOST”, 9. März 1930

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