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Als Mausohr den Tölpel schlug

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Wir KZ-Leute hatten die große V-l-Baustelle vor Calais verlassen müssen. Zweimal hatten amerikanische Bomberverbände ihre orgelnden Lasten mehrere Stunden lang in das zu tödlicher Regungslosigkeit erstarrte Gelände stürzen lassen. Wir hatten vierzig Mann Verluste, Tote, Vermißte, einige mochten sich, der bösen Fron zu entrinnen, bei den Franzosen versteckt haben. Ich hatte Glück und Pech gehabt: Glück, weil ich unversehrt geblieben war, Pech, weil ich keine Gelegenheit zur Flucht gefunden hatte. Ich war zu erfahren, der bohrenden Sehnsucht nach Freiheit ohne genügende Aussicht auf ein Gelingen nachzugeben, ich beherrschte mich und wartete geduldig auf meine Stunde.

Nun arbeiteten wir für einige Tage auf einem anderen Bauplatz, betonierten unterirdische Befehlsstände für den kommenden V-Waffen-Angriff auf England, und die Leitung unseres KZ-Einsatzlagers wartete ab, ob sich die Angriffe auf die Großbaustelle erneuern würden.

An einem dieser Tage geschah etwas, was sich als Ganzes meinem Gedächtnisse unauslöschlich eingeprägt hat. Wir saßen in der Mittagspause auf Balken und Brettern herum und löffelten unsere grünliche Erbsensuppe. Da erschien der Lagerführer, unsere emsländischen Bewachungsmannschaften brüllten ihr „Achtung!” — ein Wort, das ich haßte wie wenige Dinge auf der Weh —, wir spritzten auf und standen stramm Alle, alle standen wir unbeweglich, wie es uns in vielen Monaten grausam genug gelehrt worden war, und blickten dem Lagerführer entgegen, der übrigens nicht der schlechteste Kerl war und nun mit verschlossenem, grauem Gesicht die Baustelle besichtigte. Nur einer war sitzen-geblieben und löffelte seelenruhig weiter an seiner Suppe: Martin, der Schwadisinnige, der keine Ahnung hatte, weshalb er in das KZ gesteckt worden war. Mit einem leeren Lächeln sdiaute er auf, als der Lagerführer vor ihm stand, ihn nachdenklich betrachtete und dann sdiweigend weiterging. Wir grinsten und stießen uns heimlich an, dann durften wir uns setzen und weiteressen. Der Lagerführer verschwand mit seiner Begleitung in andere Gebiete der Baustelle. Kaum war er fort, eilte das Mausohr herbei, einer der bösartigsten Wadileute, den wir am liebsten lebend zerrissen hätten und der seinen Spitznamen von seinen mausohrähnlichen Ohren hatte. Er trat den armen Blödian in die Seite, daß dieser unbeholfen hinfiel und sich die klebrige Suppe über ihn ergoß. Dann riß er ihn wieder hoch und begann, ihn mit einem dünnen Gummi- sdilauch zu schlagen. Nidit blind und wahllos in wilder Wut, nein, überlegen und genießend immer wieder auf die gleiche Stelle zwischen Schulter und Hals. Martin, der sich nidit gleich ausgekannt hatte, begann nun zu schreien, auf eine fürchterliche, tierische Art zu schreien, daß mir Schauer den Rücken herabrieselten. Mausohr schlug und schlug, seine Augen blitzten und nach jedem Hieb fuhr seine Zunge heraus wie eine glatte Eidediese und leckte die Lippen. Der unglückselige Krüppel wand sich, krümmte sich, näßte und entleerte sich vor Schmerz in die Hose, stürzte, wand sich nun auf der Erde und schrie weiter so entsetzlich, daß midi Übelkeit im Halse zu würgen begann. Sein Peiniger ließ noch immer nicht von ihm ab. Ein Mfthäftling, ein unangenehmer, ewig dienstbeflissener Sachse, lachte über sein ganzes ekelhaftes Gesicht, schrie: „Das Schwein hat sich vollgemacht!” und sah, Zustimmung heischend, zu Mausohr auf.

Neben mir stand der lange Hoffenreich, ein guter Kamerad, Wiener, Sohn eines Obersten, Medizinstudent, und schaute mit saddithem Ernst und verborgener Trauer zu. Vor mir saß Hannes, ein junger Priester aus der Kölner Gegend, seufzte ein ums anderemal und knirschte mit den Zähnen. „Wenn ich das Mausohr einmal erwische, ich schlage ihm jeden Knochen einzeln im Leibe kaputt”, sagte er und grub seine Finger ohnmächtig in den Erdboden.

Nun ging die Tortur allmählich zu Ende, Martin hatte nichts Menschenähnliches mehr an sich, ein zuckendes, blutiges, stinkendes Bündel Fleisch lag im Grase, als das Mausohr seine Lust gestillt hatte und sich, nicht ohne drohend umherzuschauen, mit schleichenden Schritten entfernte.

Mir aber hatte der Ausspruch des jungen Priesters zu denken gegeben, und je mehr ich darüber nachdachte, um so erschrockener wurde ich. Hatte er auch ausgesprochen, was ais Gedanke zügellosen Hasses in meinem eigenen Kopfe umging, so war mir doch an ihm seltsam erschienen, was mir an mir selbst nur selbstverständlich vorkam. Es war Wahnsinn, einen Menschen aus Rache quäle- risdi totschlagen zu wollen, aus Priestermunde doppelter Wahnsinn. Wie sollte die Bosheit der Welt jemals weniger werden, wenn selbst wir — Hannes und Hoffenreich rechnete ich zu einer Schar Auserwählter, die es besser machen sollten als die meisten anderen Leute — zu Untaten bereit und reif waren? Es ist im Leben oft so, daß man vieles liest und hört, sich daran erwärmt und meint, feste, wirkende Erkenntnisse zu besitzen, und daß man erst später merkt, daß alle solche schöne Gedanken wie Spreu davonfliegen, wenn man sich im Drange des Daseins bewegt. Nur selten sind die Stunden, die einen im Innersten ausbrennen und nichts hinterlassen, als die Asche des Gewesenen, aus der sich dann durch einen geheimnisvollen Vorgang etwas Neues bildet: die Frucht des echten, des wirklichen Erlebnisses. Die schreckliche Prügelei und der gequälte Ausruf meines Freundes Hannes waren solch ein Erlebnis, ein Angelpunkt, um den sich einiges in meinem Leben gewendet hat. Ich erkannte, was ich viele Male gelesen, gehört, ja selbst ausgesprochen haben mochte, als Wahrheit. Ich weiß erst seit diesen Augenblicken damals, daß der Mensch wirklich gut sein muß, wenn er aus sich und der Welt etwas machen will. Es dauerte noch lange Zeit, mehrere Jahre, bis diese Erkenntnis mich Schritt für Schritt ganz in Besitz nahm, zeitweise hatte ich sie sogar vergessen, aber sie war immer gleich wieder wach, und heute weiß ich, daß ich nichts wäre ohne sie, gleich, welche Erfolge mir sonst auf meinem Lebenswege besdiieden gewesen wären. Ich weiß, daß ich mehr materielle Güter hätte erwerben können, wenn mich dieses Wissen nicht daran gehindert hätte, aber das macht mich nicht traurig. Der Mensch muß gut sein und seine Feinde, selbst seine Peiniger lieben, wenn es besser werden soll auf dieser Welt. Was ich früher für eine Schwäche gehalten hatte, ist mir nun eine Stärke — des Christentums. Wenn es genügend wirkliche Christen in Deutschland und auf der Welt gegeben hätte, wäre es niemals zu dem letzten Krieg gekommen. Der Geist der Liebe muß die tierische, böse Menschennatur in einem klaren, aufrüttelnden Kampf besiegen, das weiß ich nun. Das wird nie ganz gelingen, denke ich, denn man soll nicht die Wirklichkeit unter den Füßen verlieren. Aber alle Menschen, die etwas auf sich halten, sollten erkennen, daß dies die Grundfrage unseres gesamten Lebens ist, und sollten sich dafür einsetzen, das Weltgefüge wenigstens in einer Art Gleichgewicht zu erhalten, damit jene Katastrophen, die Menschen und Völker einander bereiten, endlich unterbleiben. Schande dem faulen, schlaffen Menschengeschlecht, welches geschehen läßt, daß sich das Böse immer wieder erhebt! Schande über die, die mit dem Gedanken spielen, Sowjetrußland mit einem plötzlichen Atombombenschlag zu zerschmettern, um dann vermeintlich Ruhe zu haben! Schande über mich, daß ich nicht ausziehe, Gottes Liebesauftrag allen jenen zu verkünden, die es hören wollen, und auch jenen, die es nicht hören wollen!

Martin, der Tölpel, ist 1943 bei einem neuen Luftangriff vor Calais umgekommen, wir haben ihn mit vielen anderen eingescharrt in der schuldlosen Erde Frankreichs. Hannes, der Priester, hat die Anfechtung, die in seinen bösen Worten gelegen war, noch viel schmerzhafter verspürt als ich, wie ich später merkte, und hat sich alsbald auf eine wunderbare Weise zu reinigen vermocht: er lief einmal im Bombenregen aus dem sicheren Unterstand und holte das sinnlos betrunkene Mausohr herein, das in ohnmächtiger Wut torkelnd im Freien stand und drohend die Fäuste zum Himmel erhob, woher der Tod in dröhnenden Kaskaden herabgeheult kam. Es haben ihn wohl die wenigsten von uns Häftlingen verstanden.

Ich habe Hannes später durch meine Flucht aus den Augen verloren. Ich hoffe im stillen, daß er am Leben geblieben ist und für das Gute arbeitet. Ich denke oft an Hannes, an Martin und auch an das Mausohr, das später, in einem wassergefüllten Bombentrichter elendiglich ertrunken ist. Jenes Erlebnis aber sehe ich als den eigentlichen Sinn meiner Jahre im KZ an. So ist es natürlich geworden, daß ich nun für diese Jahre dankbar bin und jene, die mich dorthin brachten, als Werkzeuge ansehe, als Werkzeuge, wie ich selbst eines bin in der Hand Gottes.

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