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Am Salbungsstein

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Zum Mariengrab in Jerusalem steigt man auf vielen Stufen wie in eine unterirdische Höhle hinab. Man geht mit einer dünnen Kerze in den dunklen Raum und steckt sie auf einen Ständer. Mir war das Mariengrab eines der sympathischesten Heiligtümer. Einmal verweilte ich dort länger, auf einer Stufe sitzend. Stand da plötzlich ein großer, fester Mann in europäischer Kleidung vor mir, der mich bei der Schulter anfaßte und mir seine Kerze ins Gesicht hielt.

„Haben Sie etwas, ist Ihnen schlecht?“ fragte er.

„Warum?“ antwortete ich.

„Ich dachte, weil Sie so dasaßen. Weinen Sie?“

„Was ist dabei, wenn ich weine. Lassen Sie mich nur, mir fehlt nichts.“

Er brummte etwas und ging. Was braucht er mich nach meinen Tränen fragen. Wenn man nicht einmal im Mariengrab, zehn Meter unter der Erde, weinen darf, wo soll man es sonst tun?

Ich blieb noch eine Weile, dann stieg ich ans Tageslicht hinauf. Der gute Mann stand dort auf dem Weg, als warte er auf mich. Ich bemühte mich, recht gleichgültig dreinzuschauen, nicht wie einer, der eben geweint hat. Er gehörte zu dem internationalen Publikum, von dem es in Jerusalem immer wimmelt. Er entschuldigte sich, daß er mich gestört habe. Ich war versöhnlich Und dankte ihm für die Aufmerksamkeit. Es hätte mir ja wirklich schlecht sein können, es kommt allerhand vor. Ich ging wohl auch in die Stadt? — Das Mariengrab liegt vor der Stadtmauer beim Garten Gethsemane. — Ob er mich begleiten dürfe? Ich wollte noch in die Grabeskirche gehen, um meine Andacht zu verrichten, denn am nächsten Tage mußte ich schon abreisen.

Er begann nun ganz nett zu plaudern, man konnte ihm nicht böse sein. „Ich bin kein Pilger,“ sagte er, „ich bin nämlich auf den lieben Gott böse. Ich bin nur im Vorbeifahren hergekommen.“

„Auf den lieben Gott sind sie böse, ja warum denn?“

Nun erzählte er mir seine Geschichte. Er war Deutschamerikaner, der sich die letzten Jahre in Argentinien als Kaufmann aufgehalten hatte. Auf einem Flug über die Anden war das Flugzeug mit Mutter und Tochter abgestürzt, als das Mädrhen aus dem Pensionat in die Ferien sollte.

„Der Urwald hat sie verschluckt und aufgefressen, man hat keine Spuren gefunden. Wir hingen so aneinan der. Wir lebten nur füreinander. Seitdem bin ich auf Gott böse.“

„Das trifft sich gut, Sie sind auf Gott böse und ich fürchte, daß Gott auf mich böse ist.“

„Haben Sie deswegen geweint?“

„Ja, gerade heraus gesagt, wegen meiner Sünden.“

„Sind Sie Skrupulant?“

„Nicht mehr, als wir es alle mit Grund sein müssen. Daß wir uns Sorge machen wegen unserer Bosheit.“

„Das verstehe ich nicht. Ich kann nicht weinen, ich bin hart wie ein Stein.“ Dabei schlug er sich an die Brust, daß es dröhnte.

„Wenn er mir nur die Frau oder nur das Kind genommen hätte, aber beide auf einmal, das ist mir zuviel. Das haben wir nicht verdient.“

„Sie reden so, als wäre Gott auch ein Kaufmann. Aber unser Geschäftsverhältnis zu Gott ist einseitig, er hat immer Forderungen und wir nie.“

Da lachte er trodsen auf. „Das ist es, er ist gar nicht kulant.“

Wir waren durch das Stephanstor getreten und stiegen durch die engen Gassen zur Grabeskirche. Mir war leid, daß er mich mit seinen unsinnigen Klagen störte. Ich wollte die kostbaren Augenblicke nützlicher verbringen.

Ich sagte zum Abschluß des ganzen: „Hadern Sie nur, das ist nicht das Schlechteste, Job hat es auch getan und Gott war ihm deswegen nicht böse.“ Dann dachte ich an meine eigenen Sachen.

„Böse ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Er geht mir ja ab. Jetzt, da ich meine beiden Lieben verloren habe, brauchte ich ihn, ich bin so doppelt allein, aber ich komm nicht heraus. Ein Pater riet mir, ich sollte zum Heiligen Grabe fahren, vielleicht würde mir dort die Gnade zuteil. Ich wäre nicht hergekommen, aber ich habe im Irak zu tun und da kam ich auch hierher. Ich habe alles angesehen, abe: es hat keinen Eindruck auf mich gemacht.“ So sprach er. Ich gab ihm keine Antwort.

„Haben Sie hier die Gnade schon gefunden?“ fragte er mich.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, ob er damit etwas äußerlich Wahrnehmbares meint oder bloß eine innere Rührung. Hol mich dr Ttu el, ich habe es satt. Ich werde morgen auch reisen. Es liegt nicht an mir, es liegt an Ihm. Er hat andere Möglichkeiten wie ich. Ich bin nur ein kleiner Kaufmann. Mit beschränkter Haftung sozusagen.“

Er redete mehr für sich als für mich.

Da waren wir sonderbaren Pilg = r auf dem Platz vor der Grabeskirche angelangt. Wenige Leute gingen in die Kirche, Kinder spielten davor. Interessiert sah ich ihnen zu, denn mitten in der Schar war ein kleiner Negerbub von etwa vier Jahren, der in einem richtigen winzigen Franziskanerhabit steckte. Er balgte gerade mit einem Arabermädchen. Es war ein Bild zum Totlachen. Ich ging an die beiden heran, aber sie flohen. Ich forderte meinen Begleiter auf, mir zu helfen, den entzückenden Schwarzen zu fangen, doch es gelang uns nicht, wie der Blitz stob er davon.

Beim Tor blieben wir stehen. Ich wollte mich verabschieden. Aber er schob es hinaus, bis wir aus der Kirche kämen. Dann traten wir ein. Er bückte sich drinnen vor mir und ging in die winzige Kammer, der eigentlichen Grabeskapelle, nach mir kam eine hohe dunkle Dame. Es war die Kaiserin von Abessinien, die sich damals in Jerusalem aufhielt und täglich in die Heiligtümer beten kam.

Es gelang mir, meinem Begleiter zu entkommen. In dem Gewirr der in- und übereinander gebauten Kirchen und Kapellen, die von der sogenannten Grabeskirche überwölbt sind, war es nicht schwer.

Mein Lieblingsplatz war die Steinbank hinter dem Salbungsstein. Dorthin setzte ich mich auch damals.

Der Salbungsstein liegt an dem Platze, wo die Leiche Jesu vor der Grablegung gesalbt wurde. Die Steinplatte ist gefaßt und etwas über den Erdboden erhoben, riesige Kandelaber mit Kerzen in Mannesgröße stehen an den Ecken, Ampeln hängen darüber.

Es dauerte nicht lange, da tauchte mein Quälgeist neben mir auf. Er hatte mich gefunden.

„Darf ich mich neben Sie setzen?“ fragte er mich.

„Bitte,“ sagte ich und rückte zur Seite. Nach einer Weile fragte er mich, was die Platte bedeute. Ich erklärte es ihm kurz und unwillig. Er schwieg wieder. Dann begann er abermals:

„Beten Sie jetzt?“

„Ja.“

„Um die Gnade?“ „Ja.“

„Ich werde es auch versuchen.“

Er ließ den mächtigen Kopf auf und nieder gehen, atmete schwer und seufzte.

„Jetzt hören Sie schon auf, dem Hergott die beiden Toten vorzurechnen. Hier ist doch sein eingeborener Sohn ge'egen, schämen Sie sich, das eigene Leid so zu übertreiben. Beten Sie lieber drum, daß er Sie auch bald hinüberholt.“ So wies i:h ihn zurecht.

Er schwieg. Dann fing er wieder an:

„Beten Sie jetzt für mich um die Gn?de, Sie wissen, wenn zwei gemeinsam beten, das hat was auf sich.“ Ich war betroffen, er hatte recht. Ich wandte mich jetzt innerlich ihm zu, war ihm nicht mehr böse, sondern betete für ihn.

Die Kassiererin war schon fortgegangen, es war später Nadimittag, auf einmal kam dieselbe Kinderschar zum nahen Tor hereingelaufen, geradewegs auf den Salbungsstein zu. Ich konnte es gar nicht so schnell fassen, da knieten sie schon nebeneinander an dem Stein, aber nicht lange, dann beugten sie sich über ihn und küßten ihn ab, der kleine Neger mitten unter ihnen. Hierauf bestreuten sie den Stein mit Blumen, und schon waren sie wieder draußen. Es geschah so schnell, daß es mir heute fast noch wie ein Traum ersch?int; sie müssen es oft getan haben. Mein Nachbar starrte auf den roten Stein, der nun voller Blüten war, und stammelte:

„Die Gnade, die Gnade!“

Ohne uns zu verständigen, knieten wir wie die Kinder zum Stein und beteten lange.

Spätei schrieb er mir, damals sei es plötzlich in seiner verfinsterten Seele licht geworden und er hä.te erkannt, daß Gott die lauterste Liebe ist. Ich antwortete ihm: mir sei es ähnlich ergangen.

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