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Am Schaufenster

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Vor Jahren wohnte ich in der Hauptstraße einer kleinen Stadt einer Buchhandlung gegenüber. Sah man zum Fenster hinunter, so gab es auch in dieser kleinen Stadt allerlei zu sehen! Einen Großteil der Leute kannte ich, wenn auch nicht dem Namen, sondern nur dem Aussehen nach. Einmal hat sich ein Stück Schicksal vor meinem Fenster abgespielt und ich war sehr bewegt davon.

Nach ein Uhr, wenn die Gymnasiasten heimgingen, blieb eines Tages ein etwa Sechzehnjähriger vor den Schaufenstern der Buchhandlung stehen und betrachtete die ausgestellten Bücher. Er mußte vom Lande sein und zu jenen gehören, die täglich mit der Bahn in die Schule fuhren. Denn er trug seine Schulsachen im Rucksack und hatte ländliche Kleidung. Hut trug er keinen. Ich erkannte ihn gleich, wenn er, von oben kommend, dem Buchladen zustrebte. Wie stand er da und schaute und last Und Sehnsucht und Freude lag auf seinem Antlitz. Manchmal, nach langem Oberlegen, trat er auch ins Geschäft und kam dann meist mit einem schmalen Reclam-Büchleth heraus. Aber welch ein Reichtum war das in seinen Händen! Ich beugte mich einmal aus dem Fenster, um zu sehen, wohin er ging. Ich sah ihn in eine billige Volksküche' treten. Da dachte ich: Wahrhaftig, es gibt noch Jünglinge, die mehr nach dem Worte als nach dem Brote verlangen!

Eines Tages, als er wieder vor dem Schaufenster stand, kam ein Mädchen an ihm vorbei. Sie sah ihn, blieb stehen und schaute auch auf die Bücher. Plötzlich bemerkte er sie. Sie mußten sich von irgendwoher flüchtig kennen. Er war so verwirrt, daß ich schon glaubte, er würde sich davonmachen. A|s sie sich die Hände reichten, erröteten sie, er mehr als das Mädchen. Nach einer Weile verabschiedeten sie sich, doch als sich ergab, daß sie den gleichen Weg hatten, begleitete er sie. Am nächsten Tage sah er etwas zerstreut auf seine Bücher. Nach zwei Tagen kam sie wieder und sie .gingen mitsammen. Sie war anscheinend in der Mittagszeit daheim gewesen und ging wieder ins Geschäft. Ich sah sie nun jeden Tag. Es war leicht zu erkennen, da'ß er zum ersten Male vom Eros berührt worden war. Er wartete immer vor der Buchhandlung, aber er tat lange so, als wäre es zufällig, daß sie sich trafen. So groß war seine Sehen vor dem neuen Gefühl, das in ihm aufgestanden war.

Einmal sah ich ihm außergewöhnlich lange warten. Sie kam nicht daher, wiesehr er auch die Straße hinaufblickte. Er ging weiter und kam wieder zurück. Doch von ihr war nichts zu sehen. Traurig ging i er fort, an diesem Mittag war's für das Essen zu spät, aber er hatte einen anderen Kummer. Am nächsten Tag wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Bald zeigte sich die Lösung. Eine Viertelstunde bevor er kam sah ich das Mädchen mit einem anderen vorbeigehen. Dieser war älter und eleganter als der Gymnasiast, vielleicht war er ein Beamter in ihrem Büro. Der Verschmähte wartete eine ganze Woche, und es war mir schrecklich, ihn dort unten warten zu sehen. Dann blieb er aus. Ich dachte immer an ihn. Er war sicher, ein Mensch von Hess und Gemüt, das Erlebnis der ersten Liebe mußtti ihn bis auf den Grund aufgewühlt haben. Um so schwerer traf ihn die Enttäuschung* Wahrscheinlich hatte er auch niemand, mit dem er sich hätte ausreden können. Ich hätte ihn gerne getröstet. Aber er hätte sich wahrscheinlich geschämt, darüber zu reden. Ich dachte mir alles Mögliche aus. Ich wollte ein Buch für ihn in der Buchhandlung kau* fen, sie kannten dort den jungen Büchern freund sicher, etwa Piatos Symposion oder, Hölderlins Diotima. Aber ich verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Vielleicht konnten ihm nur meine besorgten Gedanken und guten Wünsche helfen. Mehr hätte er nicht vertragen.

Auf das Mädchen war ich bös. Wie keck sie jetzt vorbeilief. Sie hatte sich förmlich' verändert und eine neue Sicherheit bekomm men. Sie ließ sich auch von anderen begleiten! und manchmal war sie allein. Bei der Buch* handlung blieb sie nie stehen. Ihn sah ich nicht mehr. Bis nach den Ferien. Da stand er eines Tages wieder vor der Buchhandlung, Er war stärker und männlicher geworden. Lange, lange stand er und schaute, denn alle Bücher waren ihm neu. Ich kann nicht sagen, wie froh ich war, als ich ihn so ruhig und vielleicht über das Erlebnis längst hinansH gewachsen dastehen sah.

Plötzlich — es war ihre Zeit — kam sk daher, allein. Sie sah ihn stehen, zögerte und ging dann langsam von rückwärts auf ihn zu. Ich bemerkte, wie er erschrak, als er sie im Spiegel der Auslage kommen sah Dann aber straffte er sich und rührte sich nicht. Sie blieb hinter ihm stehen und siel sahen einander einen Augenblick in des Scheibe an. Dann blickte er auf die Bücher* Da drehte sie sich um und ging langsam weitet, '

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