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Am Scheideweg in Salzburg

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Der komplexe Zustand, den man simplifizierend unter dem Begriff der „europäischen Kulturkrise“ zusammenfaßt, wird auch in Salzburg von Jahr zu Jahr spürbarer und damit bewußter. Er bleibt dem, der Augen hat zu sehen, auch hinter dem atmosphärischen Glanz der Festspiele nicht verborgen. Er tritt unverhüllter, brüsker zutage in der Entwicklung des Landestheaters. Er ist wesentlich bedingt durch tiefgreifende und weit zurückreichende Ursachen geistesgeschichtlicher Natur, an deren Folgen jede kulturelle Institution leidet, er ist jedoch mitbedingt durch Verhältnisse, die durch örtliche Entscheidungen entstanden und durch sie behebbar sind.

Die Erwartungen, die man 1945 in ein zu erneuerndes Theater gesetzt hatte, sind enttäuscht worden. Man beantwortet die Furchtbarkeiten des erlebten, die Drohungen des kommenden Weltgeschehens nicht damit, daß man in die banal kommerzielle Gesinnung des liberalistischen Theaterdirektors zurücksinkt, dessen Programm Goethe im „Faust“ formuliert hat: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Man weicht bequem der Antwort aus, aber die Fragen, die an den Menschen der Gegenwart unausweichlich gestellt sind, hören nicht auf, sein Herz zu beunruhigen. Nicht jeder geht zufrieden aus dem Haus, nicht einer, der die Zeit wach erlebt und der seine Anliegen — die überzeitlich gültigen, allgemein menschlichen Anliegen, welche die großen Dramatiker gestaltet haben, und die spezifischen Gegenwartsanliegen — auf der Bühne wie in einem Spiegel unverfälscht dargestellt wünscht. Der im rechten Sinn moderne Theaterleiter muß ergriffen sein von diesen Anliegen, er muß für sie brennen und an ihnen leiden. Er wird den aufrufenden, den fordernden Stücken den Vorzug geben, er wird (weit entfernt davon, sie im Grunde indifferent, rein vom Darstellerisch-Artistischen her, zu betrachten) sich ihrer Problematik innerlich stellen und sein Ensemble dahin führen, den Rahmen des bloß Gekonnten, genau Geformten, des Routinierten zu sprengen und aus einem ständig zu erneuernden schöpferischen Kontakt mit dem Essentiellen der dargestellten Person, selbst bewegt und 60 den Zuschauer bewegend, zu „spielen“.

Daß der Theaterleiter sich auf die Bewältigung der organisatorischen, administrativen, wirtschaftlichen Dinge verstehe, ist die i materielle, bisher übrigens nicht immer erfüllte Voraussetzung für seine eigentliche Aufgabe, die aber mit ihr nicht verwechselt werden darf. Wenn irgendwo, dann ist in einer kulturellen Einrichtung das Technisch-Wirtschaftliche nicht Selbstzweck, sondern den künstlerischen Absicht e n dienend unterzuordnen.

Salzburg steht zum fünften mal seit 1945 vor der Wahl eines neuen Theaterdirektors, den gegenwärtigen interimistischen Leiter nicht eingerechnet. Jedem Einsichtigen ist klar, daß der sensible Apparat eines Theaters diesen häufigen Wechsel schlecht verträgt. Eine Wahl auf lange Sicht wäre dringend zu wünschen, welche die Heranbildung eines stabilen Ensembles, das sich zusammenspielt und kontinuierlich entfaltet, verbürgt. Die Reaktion von ungefähr dreißig, zum Teil beachtlichen, Bewerbern auf die Ausschreibung der Stelle hat bewiesen, daß der Ruf dieser Stadt Menschen anzuziehen vermag, deren Format das eines mittleren Provinzbühnenleiters weit überragt. Der atmosphärische Zauber Salzburgs, der nach dem Geständnis eines großen Dirigenten den aller anderen Weltfestspielstädte übertrifft, die dichte und erfüllte Komposition seiner Schönheit, das vielgerühmte Ineinanderspiel der städtischen Architektur und der umgebenden Landschaft, die Festspiele selbst üben eine einzigartige Anziehungskraft gerade auf künstlerische Individualitäten aus — eine Chance, die nicht mehr versäumt, sondern klug benützt werden sollte. Den sich dazu meldenden Sparsamkeitsbedenken ist entgegenzuhalten, daß ein intensives, lebendiges, einfallsreiches Theater derart attraktiv zu wirken imstande ist, daß jeder vernünftige Aufwand für qualifizierte Arbeit in der Potenz vergolten wird. Jeder Mensch, und in einer besonderen Weise der Künstler, bedarf zu einer freien Entfaltung der ungeschmälerten Verfügung über ein gewisses Maß materieller Güter — und sein Recht darauf steht in Korrelation zu Qualität und Verantwortlichkeit seiner beruflichen Leistung.

Der moderne Staat, hier Land und Stadtgemeinde, hat auch als Kunstmäzen die Nachfolge des Landesfürsten angetreten. Indem die Regierungsvertreter den neuen Direktor wählen, setzen ie einen kulturpolitischen Akt. Der Staat greift durch die Bestellung einer bestimmten Persönlichkeit in die aktuelle Realität des kulturellen Bereiches ein, in dessen überaktueller Wirklichkeit seine Autorität kein Recht zu setzen, keine Geltung zu verändern, kein Gesetz aufzuheben vermag. Die Gesetze, denen die Kunst unterworfen ist, sind der politischen Sphäre gegenüber autonom. Ihre souveräne Würde verlangt, daß man sie achtet, daß man auf sie achtet, um die Urteile, die Entschlüsse sachgerecht zu fällen. Das Land, das für das Landestheater primär verantwortlich ist, bekennt sich dazu als zu einer Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung, weil es die kulturellen Intentionen seiner Gesellschaft repräsentiert. Das Land bezeugt dadurch sein, wenn nicht direktes, so doch indirektes, vitales Interesse daran. Es kann ihm nicht gleichgültig sein, ob sein Theater eine Oper, ein klassisches Drama schlecht und recht absolviert oder mit Hingabe, Verständnis, Eifer und Fleiß probt und spielt; ob das Operettenpublikum einer trivialen oder einer von gehobener Heiterkeit, Beschwingtheit und Grazie getragenen Aufführung Beifall ktetsdht: ob dl

Impulse, die von ihm ausgehen, emporziehen oder depravierend wirken.

Die Potenz der Begabung, den Umfang der geistigen Horizonte, die humanen und artistischen Qualitäten einer Persönlichkeit zu erfassen und zu beurteilen, ist schwer und braucht Zeit, Einfühlung, Unterscheidungsfähigkeit und vorsichtige Orientierung am Urteil sachlich Kompetenter. Es ist ein Prüfstein menschlicher Bewährung für den Politiker, der das als eine wichtige und ernste Sache betrachtet, was die Mußezeit vieler Menschen erfüllt. Einen Augenblick lang erinnert man sich an den erstaunlichen Satz, den Aristoteles in seinem Werk über die Politik geschrieben hat und der in uns Menschen eines aktivistischen Zeitalters das Gleichgewicht im Messen der menschlichen Dinge wiederherstellt: „Die Muße ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht.“

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