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Am Tage Uhuru

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Kein Wort der Swahili-Sprache übt derzeit eine solche Faszination auf die Massen aus wie dieses Uhuru (Freiheit). Es ist zum Gruß der TANU (Tanganyika African National Union), der großen Nationalpartei Tanganjikas, geworden. Die Massen erwarten sich vom „Tage Uhuru“ unerfüllbare Dinge: Dann brauchen wir keine Steuern zu zahlen. Wir werden jagen, wo und soviel wir wollen. Wir werden unseren Reis — nicht gerade den besten! — in Europa zu Höchstpreisen verkaufen und dafür billigen asiatischen Reis importieren. Die Kerker werden ihre Tore öffnen. (Es gibt dort keine politischen Gefangenen!) Ein Neger fragte allen Ernstes bei Radio Daressalam an, ob am „Tage Uhuru“ die Toten auferstehen? Wir können uns unschwer ausmalen, was geschehen müßte, würden politische Medizinmänner diese Hochspannung geschickt ausnützen. Kostproben bekamen wir da und dort zu spüren. So verbreitete TATU (eine kaufmännische Organisation der TANU) in einem Gebiet das Gerücht, sie würden den Reisbauern einen Tajiri (Reichen) schicken, der ihnen unglaubliche Preise für ihre Ernte zahlen würde. Von nah und fern schleppten die Afrikaner auf den Köpfen ihren Reis herbei. Als der sagenhafte Reiche ausblieb, fielen sie noch ein zweites Mal herein. In dieser nervösen Hochspannung wäre es ein leichtes, Haß gegen Inder und Europäer zu schüren, die Maschinen besitzen, mit denen sie jede beliebige Menge Geld herstellen können, es aber für den armen Afrikaner eben nicht herstellen!

Die Welt ist sich einig: die Zukunft Tanganjikas heißt Julius NyererelEr gründete 1954 TANU. Er führte sie zum ersten hundertprozentigen Wahlerfolg, als 195 8 von 64 Mandaten des „Parlaments'' 10 durch Wahl an Afrikaner vergeben wurden. Er verficht ruhig und maßvoll, aber unermüdlich seit 1955 vor dem Forum der UNO die Freiheit Tanganjikas. Der hochgebildete, schlagfertige, bescheidene Afrikaner wurde als Kind des Häuptlings Nyerere Burito aus einem der kleinsten der etwa 120 Stämme Tanganjikas geboren. Der äußerst begabte Junge — er absolvierte in drei Jahren vier Volksschulklassen — wurde 1943 Katholik. 1943 bis 1945 finden wir ihn an der Makeere-Universität in Uganda. Anschließend wird er Lehrer an einer Realschule der Weißen Väter in Tabora. Das Jahr 1949 verschafft ihm einen dreijährigen Studienaufenthalt in Schottland. Ende 1952 wird er Professor am St. Francis' College zu Pugu. Als solcher gründet er zwei Jahre später TANU und scheidet damit aus dem Schuldienst, da ihn seine politische Gründung sofort ganz in Beschlag nimmt. Nyerere besitzt in einer ehemaligen Missionslehrerin eine vorbildliche Frau, Mutter von fünf Kindern. Aus dem Mittelschullehrer ist der große Erzieher Tanganjikas geworden, der die vertracktesten Ideen der Politik und Nationalökonomie in das Alltagsswahihili des kleinen Mannes zu übersetzen versteht. Überzeugt vom Sieg seiner gerechten Sache, ging er nie den Weg der Mau-mau des benachbarten Kenia. „Wir wollen unsere gerechte Sache nicht mit Unrecht beflecken!“ Nyerere erfreut sich einer für Europäer unvorstellbaren Popularität, aber er hascht nicht nach ihr. Führerkult liebt er nicht. Er sagt seinen Landsleuten die unangenehmsten Dinge ins Gesicht: „Vor euch liegt kein Paradies, sondern eine entsagungsreiche Zukunft ... Ihr Parteiführer, zankt euch nicht heute schon um die fettesten Posten, sondern setzt euch selbstlos für unser Volk ein ... Wir werden die Hilfe ausländischer Spezialisten benötigen und werden ihnen ein Vielfaches an afrikanischen Löhnen zu bezahlen haben. Niemand kann im Ernst erwarten, daß sie bei uns weniger als in ihrer Heimat verdienen.“ Er konstatiert das ohne Bedauern und Neid. Der Afrikaner Nyerere besucht ohne Inferioritätskomplex Veranstaltungen und Ausstellungen der Europäer und der reichen indischen Kaufmannsgemeinschaften. Freundlich und mit Haltung! „Wir 98 Prozent der Bevölkerung Tanganjikas haben keine Bedrohung durch zwei Prozent Andersfarbiger zu fürchten.“ An jenem denkwürdigen 15. Dezember 1959, wo Sir Richard Turnbull, der Gouverneur Tanganjikas, für September 1960 freie Wahlen und die Mehrheit der Ministersessel für Afrikaner in Aussicht stellte, hat Nyerere in seiner Erwiderung nicht nur an die Zukunft und Freiheit seiner Landsleute gedacht, sondern im gleichen Atemzug auch an die Zukunft der Andersfarbigen, die mit begreiflichem Bangen dem „Tage Uhuru“ entgegengehen. „Ich habe anderswo gesagt: die Lektion Tanganjikas müsse man genau lernen. Diese Lektion heißt: Vertrauen der eingewanderten Minderheiten in das Wohlwollen der einheimischen Mehrheit. Dieses Vertrauen legt uns, der Mehrheit, eine schwere Verantwortung auf, die Verantwortung, die Menschenrechte dieser Minderheiten zu schützen! Die Welt soll uns nicht vorwerfen, wir Afrikaner hätten mit einem moralischen Argument, mit dem Argument der Bruderschaft aller Menschen, unsere Freiheit gewonnen und dann dieses Argument über Bord geworfen und uns gegen unsere nichtschwarzen Brüder gewandt. Ich bitte den allmächtigen Gott, daß er uns bewahre, eine solche Sünde gegen Seine Gerechtigkeit zu begehen.“ Nirgends in Afrika hat man bisher solche von Maß und Zurückhaltung diktierten Worte vernommen.

Es ist keine dankbare Aufgabe, Prophet zu sein. So viel aber darf man doch behaupten: Sollte Nyerere Menschliches widerfahren, Afrika, die Welt wäre ärmer geworden, sie hätte einen Freund des Friedens und der Zusammenarbeit verloren. Wird dieser Staatsmann Tanganjikas, als welcher er anläßlich seines USA-Besuches im Frühjahr laut gefeiert wurde,sich vor und nach dem „Tage Uhuru“ gleichbleiben? Wenn, dann wohl nur, weil sein Geist aus Quellen gespeist wird, die jenseits des politischen Alltags liegen: aus den universalen Kräften des Christentums. Wenn Nyerere sich treu bleibt, stellt das ein afrikanisches Wunder dar. Versprach nicht auch Nkrumah, ein Demokrat zu werden, und zeigt immer mehr diktatorische Allüren?

Niemand hätte vor zehn Jahren zu hoffen gewagt, daß Tanganjika in naher Zukunft geistiges Zentrum einer neuen Politik der Versöhnung und des Rassenfriedens würde. Kenia und Uganda waren ihm in der wirtschaftlichen Entwicklung um einiges voraus. Als nämlich nach dem ersten Weltkrieg über dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, jetzt Tanganjika, der Union-Jack aufging, taten die Engländer zunächst herzlich wenig für die Entwicklung des Mandatsgebietes, begreiflich, denn sie rechneten damit, daß ihr Aufenthalt befristet sein würde. Daher überließen sie die Entwicklung des Schulwesens weitgehend den Missionären. Damals bewies aber das Inselvolk einmal mehr sein Geschick in der Behandlung fremder Nationen: es respektierte und benützte geschickt die „Native Authorities“, die Stellung der einheimischen Chiefs. Der Neger fühlte sich frei und hatte seit dem Maji-Maji-Aufstand des Jahres 1905 keine Veranlassung, zu rebellieren. Das Katz-und-Maus-Spiel eines ritterlichen Let-tow-Vorbeck und seiner ebenso ritterlichen Partner war eine Angelegenheit der Kolonialtruppen, nicht des Volkes. Gefährliche Baihingen von Proletariermassen verdüstern kaxim den Himmel der Zukunft Tanganjikas. Die Hauptstadt Daressalam zählte 1958 128.929 Einwohner, gefolgt von Tanga, das es bloß auf 38.05 3 Einwohner brachte. Trotz des ungeheuren Lebensraumes von 939.361 Quadratkilometern für schwach neun Millionen Menschen herrscht hierzulande noch gebietsweise Hungersnot. Die Afrikaner benützten vielfach wie vor 3000 Jahren die Jembe, die Haue, als Llniversal-Feld-gerät! Distrikts weise kennt man keine Milch-, Zug-, Tragtiere, ja nicht einmal Fleischtiere, von einigen mageren Hühnern abgesehen, die als „Selbstversorger“ ein kümmerliches Dasein fristen.

Es wäre aber nicht ganz ausgeschlossen, daß Tanganjika wie mit einer neuen Politik so eines Tages auch mit wirtschaftlichen Leistungen die Welt überraschte. Es gibt Anzeichen, die hier zu einigen Hoffnungen berechtigen. Es ist in Europa zu wenig bekannt, daß hier das Genossenschaftswesen wie nirgends in Ostafrika blüht und daß es in erster Linie Sache der Neger ist. Von 338.900 Genossenschaftern des Jahres 1958 waren 315.312 Afrikaner. Skeptikern sei gesagt, daß das afrikanische Genossenschaftswesen während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre seine Bewährungsprobe glänzend bestand. Seit etwa 30 Jahren gibt es nämlich schon die Kilimanjaro-Kaffeepflanzer-Genossen-schaft der Chaggas, die heute 40.000 Mitglieder bei einer Viertelmillion Bevölkerung zählt. Waren diese Bergler früher arm, sind sie heute die bestsituierten Neger Ostafrikas. Waren sie früher in 19 Häuptlingsschaf ten gespalten, die sich spinnefeind gegenüberstanden, haben sie in ihrer Genossenschaft Zusammenarbeit gelernt und sind nun auch politisch unter einem freigewählten Präsidenten geeint. Dieser Stamm hat gelernt, über den engen Rahmen der U k o o (Clan, Großfamilie) hinaus zu denken und zusammenzuarbeiten. Damit wurde das Niemandsland, das durch die Auflösung der Ukoo heute entsteht, vorweg durch Zusammenarbeit auf breiterer Basis, in der Genossenschaft, besetzt. Die Einrichtung der Ukoo muß fallen, wenn Afrika eine moderne Unternehmerschaft und einen gesunden Mittelstand bekommen soll. Es geht nun einmal nicht an, daß man seinem Ndugu die schönsten Stücke aus dem Geschäft davonträgt: „Du verstehst, ich bin dein Ndugu, da bekomme ich die Sache selbstverständlich gratis.“

Neben der sozialen Welt des Afrikaners ist heute seine religiöse Welt in Auflösung begriffen. Der Neger schämt sich, noch ein Mshenzi (Buschneger, Hinterwäldler, Heide) zu sein. Mit fliegenden Fahnen geht er zum Christentum oder zum Islam über, wer sich ihm eben überzeugend anzubieten versteht. Es stellt sich die einmalige Aufgabe, dem Neger eine neue religiös-geistige Heimat zu bieten. Die 1,331.000 Katholiken und die bedeutend schwächere Gruppe der anderen christlichen Gemeinschaften könnten in Zusammenarbeit mit dem Islam Wohlstand und Frieden Tanganjikas garantieren. Mit Optimismus, freilich mit gedämpftem Optimismus, schreiten die Menschen hier in die Jahre, die hinter dem „Tage Uhuru“ liegen. Wer mit diesen Afrikanern (Studenten, Delegationen) zu tun hat, wird guttun, immer-wieder zu Geduld zu mahnen. Er hilft damit das Konzept, des großen Afrikaners Julius Nyerere verwirklichen: Uhuru — Jasho: Freiheit und Selbstverantwortung — und hartes und ehrliches Zusammenarbeiten.

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