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An den Rand geschrieben

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Kränze auf Gräbern. Jedes Jahr wiederholt sich am 12. Februar in Österreich dasselbe Schauspiel. Da stehen Männer, die eben noch am Versammlungstisch einträchtig gesessen sind, auf und streben getrennt, ohne den anderen zu beachten, dem Friedhof zu. Die einen führt Ihr Weg zu den Gräbern der an diesem Tag 1934 gefallenen Schutzbündler. Hier legen sie Kränze nieder und sprechen vom Opfer der Toten und ihrer Mahnung an die Lebenden. Die Gräber der Männer, die damals auf der anderen Seife der Barrikade in den Reihen der Exekutive und der Wehrverbände fielen, würdigen sie keines Blickes und keiner Blume, als ob deren Tod nicht ebenso Opfer und Mahnung wäre. Die anderen halten es genau umgekehrt. Wenn die alten Kampfgefährten so handelten, könnte man es noch menschlich verstehen. Aber nun pflegen die politischen Jugendorganisationen, deren Mitglieder oft lange nach 1934 zur Welt kamen, genau so zu tun. Den richtigen Weg hat dieses Jahr der Kameradenkreis der österreichischen Widerstandsbewegung, Überlebende aus beiden Lagern vereinigt, gewiesen. An beiden Grabstätten wurden gemeinsam Kränze niedergelegf. Kränze mit rot- weißrofen Schleifen. Wann werden führende Politiker diesen biferen Weg in die Vergangenheit gemeinsam gehen? Das erst würde den Toten die richtige Ehre geben und den Lebenden wahrhaft mahnend sein.

KANN AUCH ANDERS. Ehre dem Emigranten, der aus Gesinnungsgründen sein Land verläßt, weil ihm ein politischer Zwang, der mit legalen Mitteln nicht zu beseitigen ist, die Luft zum Atmen raubt. Mitgefühl dem Vertriebenen, den eine Gewaltherrschaft wegen seiner Herkunft aus der Heimat jagt. Verständnis dem Armen, den bitterste Existenznot zwingt, das Brot der Fremde zu essen, weil er im Vaterland nicht leben kann. Aber welches Gefühl soll Österreich einem hier geborenen und aus dem bodenständigen Volk aufgewachsenen Mann entgegenbringen, der es dank anerkannter Tüchtigkeit und Begabung zu einer der ersten und wohldotiertesten Stellungen in unserer Republik gebracht hat—noch dazu in seiner Vaterstadt, der darüber hinaus der Repräsentant eines Geistes sein wollte, Beispiel für eine junge technische Elite unseres Landes, der für das „neue Österreich" — symbolisiert durch Kaprun und Donawitz, Stickstoff und LD-Ver- fahren an Stelle von Kapuzinergruft und Dreimäderlhaus — gelten will und der dennoch sang- und klanglos abgeht, einem gewiß ehrenden Ruf in die Privatwirtschaft eines uns befreundeten westlichen Landes folgt. Daß auch der edelste Patriotismus ins Wanken kommt, wenn die Not würgt, kann man verstehen. Aber wir suchen vergeblich einen zureichenden Grund für den Generaldirekior der VOESt., der nun in wenigen Wochen bereits die deutschen Mercedes-Werke führen wird. Oder machen wir es uns zu kompliziert? Sollte es um die schönen Worte der „neuen" Österreicher nicht ähnlich bestellt sein wie um gewisse Phrasen der „alten”, die man so gern ironisiert. Sollten die stolzen Manager ihrem selbstbewußten „Hier stehe ich" nicht eben so bereitwillig den Nachsatz „ ich kann nicht anders" beizufügen vermögen, wie jene, die man einmal die „Märzveilchen" nannte, es unter wesentlich härterem Druck vermochten?

KOMMT SEIN BLUT UBER UNS! Fast zur gleichen Stunde, da Kennedy sportlich-fair den sowjetischen Raumforschern zu ihrem Triumph, dem erfolgreichen Start der ersten Venusrakete (mit der Staatsflagge an Bord), gratulierte, spielte der Draht von Moskau westwärts: Die Sowjetunion gab dem UNO-Generalsekretär bekannt, daß er in ihren Augen seine Autorität verloren habe, weil durch sein Zaudern die belgisch gesteuerte Katanga-Regierung die Möglichkeit erhalten hatte, den abgesetzten kongolesischen Ministerpräsidenten Lumumba und zwei seiner Mitarbeiter ermorden zu lassen. Mit einer herrischen, an Shakespeare gemahnenden Rede hafte dies der Innenminister Katangas der Welt bekanntgegeben und höhnisch dazu aufgefordert, „Beweise” für die Schuld seines Landes zu holen. Niemand kann zur Stunde sagen, welche Stärke und Bewegungsrichtung der Sturmwind nehmen wird, der sich nun von der Mitte Afrikas her erhebt. An die Tore der belgischen Botschaften in manchen Ländern rüttelte er bereits. Mit ungewöhnlichem Ernst hat Amerikas neuer UNO-Delegierfer, Stevenson, Orkanwarnung gegeben: Die Zukunft der UNO selbst steht auf dem Spiel und mit ihr die bei allen Mängeln immerhin noch funktionierende Basis für einen Kontakt der Weltmächte.

Niemand weiß, wo Lumumba eingescharrt wurde, aber dieses unbekannte Grab ist heute zur Wirbelstelle eines Taifuns geworden.

EWG, NATO und was nun! Selbst seriöse Zeitungen unseres Landes drücken sich um eine Darstellung des EWG-Debakels in einer Weise herum, daß nur eine Tatsache diese Verschleierung erklären kann: alle Kräfte des Unterbewußtseins wehren sich, ein Lieblingskind preiszugeben. So wurde hierzulande die Pariser EWG-Konfe- renz der Regierungschefs und Außenminister als ein „Meilenstein" auf dem Wege zum integrierten Europa angesprochen. In Paris selbst sprach es Hollands Außenminister Luns so aus: „Das war ein sehr schlechtes Vorzeichen für das sogenannte vereinigte Europa." Nicht zuletzt Hollands Widerstand, aber auch dem Bedenken anderer Mitgliedstaalen der EWG ist es zuzuschreiben, daß de Gaulles feste Absicht, die EWG noch straffer politisch mit der NATO zu liieren und als ein Rückgrat einer Staatenföderation Westeuropas unter seiner Führung auszurichfen, gescheitert ist. Wie oft wird man es unseren Österreichern noch sagen müssen? Eine EWG, wie sie zur Zeit Paris und einigen in Brüssel stationierten Politikern vorschwebt, ist in jeder Hinsicht unvereinbar mit der Freiheit, nicht nur mit der Neutralität Österreichs. Ziehen wir nochmals die Lehren aus diesem Treffen in Paris: die EWG wird entweder ein auf zwei Polen ruhender Stahlpakt, der Europa zerklüftet, oder sie bedarf eines weitgehenden Umbaues: dieses letztere wollen, wie in Paris deutlich wurde, in der EWG selbst alle jene, die gegen de Gaulles monolithischen Block sind. Es ist die Aufgabe Englands und der EFTA- Sfaaten, diesen Umbau durch die eigene Aktivität zu beschleunigen.

FRUHJAHRSKUR IM WINTER. Die alten Ärzte empfahlen bei Patienten, die infolge allzu üppigen Lebenswandels an zahlreichen Beschwerden litten, als bewährtes Heilmittel einen kleinen Aderlaß. Nur die wenigsten Deutschen — von den wirklich wirtschaftlich, also vorausblickend denkenden Männern abgesehen — sehen in den angekündigten amerikanischen Finanzwünschen an Deutschland einen heilenden Aderlaß, der über Nacht einige der Unbehagenssymptome des „Wirtschaftswunders" und des mit ihm verbundenen neureichen Protzentums beseitigen könnte. Die meisten empfinden die amerikanischen Forderungen auf Mitfragen gemeinsamer Lasten als ausgesprochen beleidigend. (Die gekränkteste Stimme, die geradezu den Nationalbolschewismus als Strafmaßnahme zurückgesetzter Mallorca- Reisender aus Bielefeld androhfe — und dies Herrn Kenedy persönlich —, lasen wir allerdings nicht in einer deutschen Zeitung, sondern in einem Blatt der westlichen Bundesländer Österreichs, wo sie sich besonders passend ousnahm.) Aber weder der Rülpser aus dem Bräustüberl noch die Kummerfalten auf der Stirn Brentanos, der zum Wochenende als Überbringer einer persönlichen Botschaft Adenauers vor ihm stehen wird, werden Kennedy von seinen Wünschen abbringen. Er braucht sich für sie nicht zu rechtfertigen. Das besorgt der Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses, Sam Rayburn, der wörtlich erklärte, „die wirtschaftliche Lage sei so ernst, wie zu keiner Zeit seif der großen Krise 1929".

WIEDER EINER. Streifen und fechten konnten sie männiglich, die großen Alfen der österreichischen Publizistik, von denen nun mit dem Tiroler Doktor Anton Klotz wieder einer dahingegangen ist: mit 72 Jahren von einem Herzschlag ereilt. Aber sie wußten die Waffen jeweils zu wählen: das Florett, wenn es um die Tagespolemik ging, den Degen, wenn für die Dinge im Parlament und Staat vom Leder gezogen wurde. Und den schweren Säbel bei ganz seltenen Anlässen: wenn sie wirklich für das Vaterland zu fechten hatten. Dolche, Totschläger oder Gangster-Revolver gehörten nicht zu ihrem Arsenal. Nicht jeder ihrer Nachfolger auf den Redaktionssesseln hält in seiner Waffenkammer die gleiche säuberliche Ordnung. Dr. Klotz hat — was konnte er anderes gewesen sein als Kaiserjäger — als unumstrittener Chef der „Tiroler Tageszeitung" für sein Heimatland beiderseits des Brennens gekämpft. Daß er seinen Nachfolgern ein wohlbestalltes Haus vererbt, bezweifelt niemand. Ob er ihnen auch etwas von seiner ritterlichen Landherrenart, seiner kavaliersmäßigen Kampfesweise übererben konnte, wird erst die Zukunft zeigen.

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