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An den Rand geschrieben

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WOHIN GERATEN WIRI Die Wahnsinnstat löste lähmendes Entsetzen fast in der ganzen Welf aus. Die Weltbörsen reagierten zwar auf die Schreckensnachricht „widerstandsfähig" und die politische Automatik setzte nur wenige Minuten später einen Nachfolger an die Stelle des Ermordeten. Aber der Schock über die Labilität einer in ihrer technischen Zivilisation überperfekten Welt wird bleiben, die jähe Erkenntnis nämlich, daß ein Gewehr mit Zielfernrohr in der Hand eines verbrecherischen Narren die scheinbare Ordnung aus den Angeln zu heben vermag. Das Motiv der Tat liegt im Dunkeln, erst recht, da auch der Täter umgebracht wurde. Ob Linksradikaler oder Rechtsradikaler, das Böse in der Gewalt einer Minderheit droht weiter zu terrorisieren. Die Kugel, die Kennedy traf, war die Antwort auf seine Bemühung, die Gewaltsamkeiten nicht nur im Leben seines eigenen Volkes zu bändigen und zu überwinden. Das war die „Neue Grenze", die dieser idealistische Realist auf einer Suche nach Vernunft, Frieden und innerem Ausgleich setzen wollte. Nun wurde er, dem man nachrühmfe, dafj er, den besten Teil der Jugend der Welf hinter sich, dem Wesfen ein „neues Selbstvertrauen' gegeben habe und der in seiner Hand die ungeheuerlichste Machffülle vereinigte, die Menschen je gekannt haben, gewaltsam beseitigt. „Mein Gott! Mein Gott! Wohin geraten wir?", soll der greise Senator McCormack, Sprecher des Repräsentantenhauses und jetziger Vizepräsident, ausgerufen haben. Wenn es nicht der Ruf resignierter Verzweiflung, sondern entschlossener Besinnung war, dann erst wird sich der Sinn von Kennedys Leben und Streben erfüllt haben.

DIE MENSCHHEIT WAR EINE FAMILIE. Die kühnsten Metaphern, die utopischen Träume der Dichter und der Philosophen wurden angesichts des tragischen Todes von Präsidenf Kennedy auf ihre Realisierbarkeit geprüft, und sie haben die Prüfung bestanden. Der letzte Durchbruch zur einen Welt, zur öffentlichen Meinung der Welf, in der sich hörbar und sichtbar das immer schon off zitierte, aber nur seifen ernst genommene Weltgewissen regte, gelang mit Hilfe der Technik. Das mag für manche verspätete Träumer eine Enttäuschung sein, aber man sollte darin eher einen 'Aspekt der Hoffnung erblicken: auf die Technik ist Verlaß, sie wird schon dafür sorgen, daß die „Kommunikation" zwischen Mensch und Mensch nicht wieder aufhört, sondern sogar intensiviert wird, und daß das Welfgewissen nicht erlahmt, sondern immer mehr zu einem Faktor des Geschehens wird. Wenn man früher sagte, die Welt ist entrüstet, oder die Menschen aller Erdteile stehen im Geiste an der Bahre des Verstorbenen, so war das gleichsam eine Hoffnung und ein tröstlicher Gedanke. Diesmal saßen Millionen von Fernseh- und Rundfunkteilnehmern in ihren Wohnungen und in öffentlichen Lokalen vor den Apparaten und erlebten tatsächlich die Trauer der Angehörigen, des offiziellen Amerika und der Staaten der Welf mif. Die unmittelbaren Sin- neseindrücke mußten die moralische Wirkung der erschütternden Szenerie wohl ungemein verstärkt haben. Wenn man das Große Theater mit Recht als moralische Anstalt apostrophieren konnte, so kann man sagen, daß die Funktion technischer Einrich- funaen wie des Fernsehens einen vielleicht noch stärkeren ethischen Akzent erhalten kann, wie dies in der vergangenen Woche bewiesen wurde. Daraus ergibt sich die enorme Verantwortung der zuständigen Instanzen und wiederum die vielleicht heute noch vage Hoffnuna. daß ethische Akzente in der Politik — ganz im Sinn der Bestrebungen Kennedys — allmählich „popularisiert" werden können und so mehr als bisher zur zwingenden Norm werden.

DIE ERSTEN SCHRITTE. Noch stand und steht alles im Zeichen der Trauer um den Verstorbenen. Aber die Scheinwerfer werden allmählich umdirigiert, und die Familienangehörigen bleiben mit ihrem Schmerz endlich allein. Die ersten beiden Briefe, die Lyndon Johnson als Präsident der Vereinigten Staaten unterzeichnete, gingen an die Kinder Kennedys, Caroline und John. Aber in diesen Briefen steht auch schon der Satz, in dem sich der neue Präsidenf des mächtigsten Staates der Erde verpflichtet, ein guter Verwalter des Erbes zu werden, das John F. Kennedy hinterlassen hat. Gleichzeitig nahm Johnson am Schreibtisch Kennedys Platz und hob die Fäden auf, die ihn zu den innen- und außenpolitischen Problemen der USA hinführen werden. In einer Botschaft, die er an die Regierungschefs von

60 Staaten der Erde richtete, versicherte Präsident Johnson der gesamten Welf, dafj der Tod Präsident Kennedys nichts an der bisherigen amerikanischen Politik ändert. „Wir verpflichten uns weiterhin, unsere Stärke beizubehalten, fest zu stehen und jedes selbstlose Opfer auf uns zu nehmen, um uns die Freiheit zu bewahren und der Welt den Frieden zu erhalten." Wie inzwischen bekannt geworden ist, wurde die Botschaft Präsident Johnsons in den sowjetischen Zeitungen in grofjer Aufmachung veröffentlicht und positiv kommentiert. Johnson ist gleichzeitig gelungen, mit de Gaulle ein baldiges Treffen zu vereinbaren, bei dem — gleich zu Beginn des nächsten Jahres — eine Bereinigung der Probleme der westlichen Welt herbeizuführen wäre. De Gaulle selbst war anläßlich seines Aufenthaltes in Washington nach den Begräbnisfeierlichkeiten merklich bemüht, mit der neuen Regierungsspitze Amerikas einen guten Kontakt herzustellen, was angesichts der bekannten Reserven des Generals gegenüber der atlantischen Politik Amerikas besonders vermerkt wurde.

35 Gouverneure der amerikanischen Staaten, Demokraten und Republikaner, sicherten Präsident Johnson nach dessen Appell — indem sie aufsprangen und ihm eine lange Ovation darbrachten — ihre uneingeschränkte Unterstützung zu. Auch die Fraktionen in Abgeordnetenhaus und Senat versprachen Johnson loyale Zusammenarbeit. Es hat also den Anschein, daß Kennedys tragisches Schicksal die ersten Gehversuche des neuen Präsidenten in einem Maß erleichtert, wie dies in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika kaum noch der Fall war.

SELBSTVERSTÜMMELUNG! Die österreichische Demokratie schickt sich offenbar an, sich selbst zu verstümmeln. Der Finanz- und Budgetausschuh des Nationalrates hat am letzten Donnerstag die Debatte über das Finanzgesetz 1964 beendet, ohne die ominöse 67prozentige Erhöhung der Zeitungstarife rückgängig zu machen. Abgeordnete der Volksparfei haben im allerletzten Moment, also wohl einigermaßen verspätet, noch versucht, ihre sozialistischen Kollegen zu einer gemeinsamen Aktion zu überreden, aber der Versuch mißlang, obwohl bei den Größenordnungen des Budgeteidle 20 bis 25 .Millionen die diese Tariferhöhung den, Zeitungen kosten wird, ohnehin nicht die sonstigen Mißverhältnisse wetlmachen können. Die Politiker der Volkspartei sind aber zu spät aufgewachf, denn die neue Regelung trifft hauptsächlich nur die der Volkspartei nahestehenden oder unabhängige Zeitungen, nicht zuletzt auch gewisse chronisch defizitäre Parteiblätter, während die Finanzierung der sozialistischen und ihnen nahestehenden Zeitungen bekanntlich immer schon gut organisiert war und über solide Quellen verfügte. Gleichzeitig hört man immer häufiger, wie manche Politiker in gereiztem Ton und reichlich unüberlegt über die Zeitungen sprechen. Die Kritik an den Übelständen unserer Demokratie wird den Kritikern übelgenommen, so etwa, wie gewisse orientalische Despoten den Arzt köpfen ließen, wenn er so unvorsichtig war und sie für krank bezeichnete

KEINE ECHTE LÖSUNG. Mit gewaltigem Rauschen der Lokalseiten der Wiener Blätter begannen vor wenigen Tagen die Arbeiten zu einem Verkehrsprojekt, das für mehrere Jahre empfindliche Behinderungen des fließenden Verkehrs mit sich bringt: Die Straßenbahnlinien der Lastensfraße werden „in den Keller", also unter das Straßenniveau verlegt. Die Kosten des Projekts sind ungeheuer hoch. Ähnliche Beispiele gibt es viele. Die „Grotten" unter der Ringstraße etwa, die den Fußgänger von Wiens schönster Straße unter die Erde zwingt, die Oberfläche den Autos überlassend. Die punktuellen Lösungsversuche der Wiener Verkehrsprobleme helfen den Knäuel nicht entwirren. Ob die Summen, welche die Unterpflasterbahn verschlingt, nicht zum Ausbau des bestehenden Vollbahnnetzes um Wien weit sinnvoller verwendet werden könnten? Die Bahnen, die vor Jahrzehnten noch durch kaum besiedeltes Land im Weichbild der Stadt führten, durchziehen heute riesige Wohnoder Industrieviertel, deren Verbindung mit dem Stadtzentrum', aber auch mit den anderen Außenbezirken, durch die Straßenbahn völlig ungenügend ist. Die Schaffung eines Schnellbahnringes um Wien ist eine Aufgabe, die unter Benützung der bestehenden Anlagen keinerlei Probleme bietet. Unterpflasterbahnen oder gar Alwegbahnen — wenigstens von diesem Projekt ist das Rathaus inzwischen abgerückt — mögen zum „Prestige" des Rathauses beifragen. Echte Lösungen bieten sie aber kein .

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