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An Gerhart Hauptmann gemessen

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Gerhart Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ steht an der großen Wegscheide zwischen Naturalismus und Expressionismus auf dem deutschen Theater. Aber es kann trotzdem kein Zweifel bestehen, daß sie ihrem Grundstil nach wesentlich zur Welt des Naturalismus gehört. Die persönliche Tragödie, die zeitlosmenschliche Handlung wächst aus dem „Milieu“, die Gestalten des Dramas bleiben bis- auf ganz wenige, deutlich gekennzeichnete Augenblicke voni Dichter her in „ihrer“ Welt. Das klassische Höftheaterpathos, mir dem sich der Schauspielertheologe Spitta (eines der vielen Selbstporträts des jungen Hauptmann) auseinandersetzt, ist ihnen ebenso fremd wie die Verkünderpose des Expressionismus, der erst später mit Barlach und Wedekind einsetzt. Der Berliner Gastregisseur Willi Schmidt legte allen Nachdruck aber gerade auf diese wenigen, organisch aus der Handlung herauswachsenden Momente, von denen er den Stil des übrigen bestimmen ließ. Und das scheint uns ein grobes Mißverständnis zu sein. Alles, was aus dem Unbewußten aufsteigen, aus dem „Nebenher“ entstehen soll, wird überbelichtet, verzerrt, unerträglich überbetont. Dezente Charakterkomik wird zur schreienden Parodie, stilles, hilfloses Leid der Kreatur zum deklamierten Protest. Der Schmierenkomödiant Hassenreuter, der einzige, der diesen Tonfall als Teil seines Charakters haben darf, verliert dadurch seine dramaturgisch notwendige Gegensatzwirkung. Zeitweise ist die Bühne von lauter Hassen-reuter-Schülern bevölkert. Enttäuschend auch das Bühnenbild des Regisseurs. Es ist weder atmosphärisch-naturalistisch noch sinnbildhaft, sondern, vor allem in der Stube des Maurerpoliers, phantasielos-alltäglich.

Nicht viele unter den jüngeren Schauspielern können heute mehr wirklich naturalistisch spielen. Sie leben ihre Rollen nicht mehr aus dem Animalischen, sondern sie verfremden sie zur tänzerischen Gebärde. Darunter litt auch Peter B r o-g 1 e s sehr gescheit angelegter Spitta. Boy G o b e r t fand erst in der pathologischen Morderzählung des Bruno zu einem eigenen Stil. Auch Blanche Aubry (Knobbe) spielte zu sehr „Solo“. Um so eindrucksvoller die junge Ulrike Fessel (Selma), die von allen Nebenfiguren am intensivsten da war. Am „echtesten“ in der Verhaltenheit der Hausmeister des Peter Jost. Daß die Szene auch im Sinne des Regiekonzepts dann erfüllt war, wenn sich die elementare Wucht zweier so großer Künstlerinnen wie Heidemarie Hat heyer und Martha W a 11 n e r entlud, ist verständlich. Sie hatten auch das Recht, sich ins Zeitlos-Sinnbildhafte hineinzusteigern. Wie man trotzdem bei Hauptmann zu Hause bleiben kann, bewiesen Hermann Schömberg als Hassenreuter und Ewald Baiser als John. Sie waren Zeitbild und Gleichnis in einem.

Mit Wehmut vergegenwärtigt man sich die gemeisterte Lebens- und Gestaltenfülle Hauptmanns, wenn man einem so dürftigen Produkt wie dem begegnet, das der Gegenwartsdichter Erich Frank unter dem Titel „Der M a r e s c i a 11 o“ der „Tribüne“ als Festwocbenbeitrag anbietet.

Die anspielungsreiche Satire auf Korruption und Macht der über den Parteien thronenden Obrigkeit (unter italienischem Namen soll Österreich gemeint sein) hat nur eine einzige gute und originelle Szene, den fingierten Abrechnungsdialog des geduckten Sekretärs mit dem anmaßenden Stadttyrannen, den er als Ersatz-Rigoletto vor dessen Bild spricht. Fritz H o 1 z e r tut dies mit schauspielerischem Temperament. Über den Rest wollen wir. schweigen, vor allem, weil wir der so ambitionierten. „Tribüne“ nicht weh tun wollen. .....

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