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An jenem Atend in Berlin

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AN JENEM ABEND IN BERLIN der den denkwürdigen 30. Jänner 1933 abschloß, zeigte das Viertel um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Westen das gewohnte Bild: grelle Reklamen am Kurfürstendamm, über den die einstöckigen Autobusse, die Trams, die „Kraftdroschken“ hasteten. Grelle Reklamen am „Kaufhaus des Westens“ in der Tauentzienstraße und über den Auslagen von „Woolworth“. Grelle Reklamen am Ufa-Palast am Zoo und gedämpfte Lichter am Gloria-Palast, dem Kino mit der besten Tonapparatur Europas. Lichtüberflutete Auslagen der „Autounion“, in denen sich die neuesten Modelle der „Horch“-und „Wanderer“-AutomobiIe den Zuschauern darboten. Gemütlicher „Betrieb“ im „Romanischen Cafe“, dem berühmten Kaffeehaus der Literaten, der Ringelnatz, Roda Roda, Brentano, Polgar. Reger „Betrieb“ in den andern Kaffeehäusern, den Kabaretts, den Kinos. Nichts, nichts deutete darauf hin, daß die Welt im Begriffe war, sich zu verändern.

Im „Gloria-Palast“ waren alle Vorstellungen ausverkauft. Man gab einen französischen Film von Rene Clair mit Anabella in der Hauptrolle. „Der 14. Juli“ hieß der Streifen. Ein Film'voll Humor und Esprit. Die Zuschauer lachten. Sie amüsierten sich köstlich. Sie dachten nicht im mindesten an die Französische Revolution, auf den doch der Titel des Films hinwies. Ebensowenig, wie sie an die deutsche Revolution dachten, die soeben draußen zu marschieren begann, an jenem Abend in Berlin.

AN JENEM ABEND IN BERLIN marschierten Stunden um Stunden schwarze, braune und graue Kolonnen vom Nollendorfplatz herunter über die Friedrich-Wilhelm-Straße zum „Stern“, und von dort zum Brandenburger Tor, um schließlich mit dröhnender Musik und brennenden Fackeln zur Parade vor dem Reichspräsidenten und dem neuen Reichskanzler in die Wilhelmstraße einzubiegen. Das Diplomatenviertel um die Tiergartenstraße, die Rauchstraße, Bendlerstraße, Corneliusufer, das der Marsch dieser Kolonnen durchschritt, lag völlig ruhig und fast ausgestorben da. In der hell erleuchteten kaiserlichen japanischen Botschaft stand wie immer der alte Portier mit dem Backenbart des ersten Hohenzollernkaisers und den undurchdringlichen Gesichtszügen eines Asiaten. Vor der türkischen Botschaft parkten ein paar Autos. Kemalletin Sami Pascha, der ehemalige Generalleutnant der türkischen Armee, der fünfzehn Jahre seines Lebens ununterbrochen im Krieg gestanden hatte und siebzehnmal verwundet worden war, der Waffengefährte Kemal Atatürks, gab einen kleinen Empfang. In der tschechoslowakischen Gesandtschaft brannte ein großer Kristalluster in einem Salon im Mezzanin. Vor der rumänischen Gesandtschaft standen verlassen zwei riesige Maybachs. Im Arbeitszimmer des Grafen Limburg-Stirum, des ehemaligen Generalgouverneurs von Indonesien und jetzigen Gesandten der Königin der Niederlande, sah man ein paar Schatten gegen das Fenster gelehnt. In völliger Dunkelheit lagen die Fassaden der irischen, persischen, chilenischen, schwedischen, der hessischen und lübeckischen Gesandtschaften. Ruhe und Stille lag über dem ganzen Viertel, eine Ruhe, der auch nicht die geringste unterirdische Aufregung anzumerken war.

Nichts, nichts schien auch einen Grund zur Aufregung zu geben. Was würde sich schon ändern in Deutschland? Die Armee, die Finanzen, die Reichsbank, das Außenamt waren in bewährten Händen. Besetzt mit Männern, zu denen die Diplomaten seit Jahren die besten Beziehungen besaßen. Gescheite, korrekte Ehrenmänner. Unbekannt waren nur die zwei „Neuen“ in der Regierung. Aber der eine, der Innenminister, war ein alter Beamter, und Beamte machen keine Revolution. Blieb nur der neue Reichskanzler. Aber der hatte sofort den Eid auf die Weimarer Verfassung abgelegt. Man hatte ihm auch noch einen Vizekanzler zur Seite gegeben, der der eigentliche Regent sein sollte. Er war völlig eingekreist, unmöglich in der Lage, die Welt von heute auf morgen auf-den Kopf zu stellen. Seine Aufgabe, so hatte man vertraulich erfahren, werde es sein, den „Trommler“ zu spielen. Den Trommler, der die Massen des arbeitenden Volkes für die neue Regierung begeistern sollte, für ihre Aufbauarbeit, ihr Programm. Der mit den Millionen von Stimmen, die hinter ihm standen, der Regierung eine lange Stabilität sichern sollte. Man konnte beruhigt sein. Auch wenn nur die Hälfte all des Bösen, was einzelne Stimmen seit Jahren über diesen Mann und seine Pläne erzählten, sich als wahr erweisen sollte, konnte man beruhigt sein. Man hatte die Friedensverträge, die Allianzen, die Riesenarmeen. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Es konnte nichts geschehen. Proteste schienen absolut nicht angebracht, an jenem Abend in Berlin.

AN JENEM ABEND IN BERLIN brachten die Studenten der Universität in unmißverständlicher Weise ihren Protest gegen das neue Regime zum Ausdruck. Es war nur eine kleine Szene, aber sie verdient für immer festgehalten zu werden: In einer Vorlesung über die Servituten des Römischen Rechts packte plötzlich ein Hörer in brauner Uniform seine „Mappe' und ging von seinem rückwärts gelegenen Platz nach vorn, zur Ausgangstür. Er ging, trotz seiner Stiefel ganz leise, sichtlich bemüht, nicht zu stören. Jeder der Anwesenden wußte, daß er zum Fackelzug ging, der binnen kurzem stattfinden sollte. Der Hörsaal war sehr groß und sehr lang. Der Student in Uniform benötigte eine geraume Weile, bis er zur Ausgangstüre kam. Als er sich plötzlich mitten auf der Strecke befand, begann der ganze, dicht besetzte Hörsaal mit den- Füßen zu scharren, das auf der Universität Berlin übliche Zeichen des Mißfallens. Der Professor unrerbrach seinen Vortrag, er ermahnte die Hörer nicht, er schwieg. Und gab damit deutlich zum Ausdruck, daß er den Protest billige. Die Studenten waren zum größten Teil „Arier“, um so beachtenswerter ihr Protest. Aber er war wirkungslos. Denn wofür sie demonstrierten, war schon gestorben.

an jenem Abend in Berlin.

AN JENEM ABEND IN BERLIN starb endgültig die bisherige Staatsform der Deutschen, die Weimarer Republik. Sie war das toleranteste Regime, das die Deutschen je-besaßen und das sie nie mehr besitzen werden. Sie war von einer Liberalität, wie sie sich die größten Liberalen der Paulskirche nie erträumt hatten. Sie gewährte ihren Untertanen alle Freiheiten, selbst die, sich gegen sie zu erheben und an ihrem Untergang zu arbeiten. Sie hatte beachtliche Erfolge auf politischem Gebiet, weit mehr als das nach-bismarckische Kaiserreich. Sie hatte beachtliche wirtschaftliche und soziale Erfolge. Sie war von einer erstaunlichen Geistigkeit. Sie war auf religiösem Gebiet von größter Toleranz. Aber sie war eine Republik ohne Republikaner gewesen. Der erste Reichspräsident, der Sozialist Ebert, war überzeugter Monarchist, der Scheidemann die heftigsten Vorwürfe machte, als dieser die Republik ausrief. Der zweite Reichspräsident, Hinden-burg, fühlte sich als Statthalter des Kaisers. Stresemann, der berühmte Außenminister, war ebenfalls überzeugter Anhänger der Monarchie, der als Minister der Republik dem ehemaligen Kronprinzen Vorträge hielt. Von den 43 aktiven Generalen der Reichswehr war es nur sicher, daß sie dem Reichspräsidenten treu zu dienen bereit waren, aber unsicher, ob sie auch der Republik treu zu dienen bereit waren. Das Offizierskorps der Armee war junkerlicher denn je. Die Diplomaten kamen aus der alten Schule, die Beamten ebenso. Sie alle waren Anhänger des alten Regimes. Die Flagge der Kriegsmarine, der Reichswehr, der Handelsmarine zeigte nicht das Schwarzrotgold der Weimarer Republik, sondern die Farben des ehemaligen Kaiserreichs. Republikaner waren ein paar Zentrumsleute, ein Teil der Sozialisten und ein paar pazifistische Literaten, die niemand ernst nahm.

Das Unglück der Weimarer Republik war, daß sie den Deutschen uninteressant erschien. Sie verlieh keine Orden, sie hatte keine Uniformen, sie verzichtete bewußt auf jeden Glanz der Macht. Sie war von einer monotonen Korrektheit. Sie war langweilig, und das verziehen ihr die Deutschen nicht, Sie war bewußt gegründet worden gegen den „Geist von Potsdam“. Aber um sich zu behaupten, mußte sie sich mit den Männern von „Potsdam“ verbünden. So war der einzige Erfolg, den sie erreichte, der Abschluß eines Gentlemen's Agreements zwischen dem „Geist von Weimar“ und dem „Geist von Potsdam“. Als aber der Reichspräsident zu Mittag des 30. Jänner 1933 das neue „nationale“ Kabinett berief, da schwenkte der „Geist von Potsdam“ ab vom „Geist von Weimar“, und das Agreement war gebrochen.

Der eisige Wind, der von den vielen Spree-armen aus der märkischen Umgebung Berlins in die Stadt hereingetragen wurde, blähte manchmal die Flagge am Reichspräsidcnten-palais zur Entfaltung, als die grauen, braunen und schwarzen Kolonnen durch die Wilhelmstraße zogen. Die Standarte zeigte noch die alten Farben der Weimarer Republik. Es war nur konsequent in ihrem Geist, daß sie zu ihrem eigenen Todesmarsch geflaggt hatte. Ihre Tragödie war vollendet, an jenem Abend in Berlin.

AN JENEM ABEND IN BERLIN vollendete sich auch die Tragödie jenes Mannes, der in einem erleuchteten Fenster des Reichspräsidentenpalais, unterhalb der Flagge der Weimarer Republik, trotz seiner 85 Jahre stundenlang dem Fackelzug, der die neue Zeit einleitete, zusah. Es vollendete sich die Tragqdie des Gencralfcldmarschalls von Hindenburg.

Dieser Mann war von Haus aus hochkonservativ. Ein überzeugter Christ. Von Beruf aus ein großer Strarege. Aber schon Bismarck hatte die Deutschen gewarnt, ja nie die Militärs in die Politik zu lassen. Es könne nur Unheil geschehen. Aber Hindenburg hatte sich in die Politik gemischt und „einiges“ Unheil angerichtet: Er hatte während des Krieges ultimativ die Entfernung des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg gefordert, c|es einzigen Mannes, der sich noch etwas dem Uebcrgewicht der Militärs widersetzte. Er hatte, ebenfalls ultimativ, am 3. Oktober 1918 von der zögernden Reichsregierung die Ab-sendung eines übereilten Waffenstillstands-angebotes an die Alliierten verlangt und Deutschland damit alle Trümpfe aus der Pfand geschlagen. Er hatte als erster im November 1919 die berüchtigte Dolchstoßlegende erfunden, die in der deutschen Innenpolitik soviel Unheil anstellen sollte, obwohl doch gerade er wissen mußte, daß der Krieg militärisch verloren gewesen war, daß die Armee als erste gemeutert hatte, das deutsche Volk dagegen „eisern“ durchgehalten hatte.

Er, der überzeugte Monarchist, hatte seinen Kaiser gezwungen, im November 1918 nach Holland zu gehen, eine völlig verfehlte Maßnahme, die Deutschland nicht gegenüber den Alliierten entlastete. Er hatte als Reichspräsident Brüning gestürzr, zu einer Zeit, als djeser Deutschland schon fast „übern Berg“ hatte; er hatte ebenso Papen und Schleicher fallengelassen, immer zu einem Zeitpunkt, da djese Staatsmänner gerade zum letzten entscheidenden Schlag gegen die Nationalsozialisten ausgeholt hatten. Er hatte im Krieg Lenin nach Rußland bringen lassen und damit ein Sechstel der Erde dem bolschewistischen Regime unterworfen. Er hatte jetzt, an diesem 30. Jänner 1933, Hitler an die Macht gebracht und damit den Weg für eine Katastrophe, die Deutschland und Europa überfallen sollte, geebnet. Sein und Deutschland: Unglück war, daß er nichts von Politik verstand. „Wie sehne ich mich nach den Gesprächen mit Ebert zurück“, hatte Stresemann 1925, kurz nach dem Regierungsantritt Hin-denburgs, gesagt.

Die knarrige Stimme des Ansagers, die an jenem Abend im deutschen Radio stundenlang eine Reportage des Vorbeimarsches in der Berliner Wilhelmstraße gab, erwähnte im Tone einer Tränendrüsenpropaganda in jedem dritten Satz den „greisen Feldmarschall“. Er erwähnte nichts von der geradezu antiken Tragödie dieses. Mannes. Die sich vollendete, an jenem Abend in Berlin.

AN JENEM ABEND IN BERLIN da das deutsche Radio ununterbrochen über den Fackelzug in der Wilhelmstraße berichtete, mit dröhnender Marschmusik, Begeisterungsschreien hysterischer Frauen und knallenden Marschtrirten als Geräuschkulisse, gedachten die Sender Westeuropas nur mit wenigen Sätzen des neuen Ereignisses. Sie spulten um 22 Uhr ihre Nachrichtendienste ab, brachten die Nachricht über die neue Regierung in Deutschland und einige wenige noch unsichere Pressekommentare. Dann, um 22.30 Uhr schalteten sie alle auf ihr Nachtprogramm um. Aus „Radio Paris“ — „Tour Eiffel“, „Radio Toulouse“, „Radio Strasbourg“ klang Nachtmusik. „Radio London“ übertrug Jazz aus einer Bar. Man hörte die leise schleifenden Schritte der Tanzenden, das taktsichere Hämmern des Schlagwerkes, die langgezogenen Schreie des Saxophons. Eins Altstimme, deren Timbre man den Zigarettenrauch und Whiskydunst anmerkte, fragte etwas klagend: „Are you happy again?“

Ueber Europa lag noch tiefe Ruhe. Die Wirtschaftskrise lastete als schwerstes Problem auf den Menschen. Das Wort „Gestapo“ hatte noch nicht einen schrecklichen Klang für Millionen. Auschwitz war nur für sehr gute Kenner des österreichischen Kaisertitels ein Begriff. Es war unvorstellbar, daß Hunderttausende von Menschen auf raffinierte Weise vergast werden könnten. Ebenso unvorstellbar war es, daß 18 Millionen aus ihrer Heimat vertrieben werden könnten. Fallschirmtruppen und Atombomben waren unbekannte Waffen. Stalingrad den Massen kein Begriff. Noch galt der Grundsatz, daß Verträge zu halten seien, und wer diese Grundsätze dennoch brach, hatte zumindest ein, schlechtes Gewissen.

Niemand ahnte die kommenden Katastrophen, die kommenden Schrecknisse. Niemand ahnte den Wahnsinn, der zu rollen begann, an jenem Abend in Berlin.

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