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An meine Brüder

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Ich grüße euch, meine Brüder, und bitte euch, für einen Flügelschlag der Zeit die gesenkten Köpfe zu heben, mit dem nur euch eigenen Blick und Lächeln meine Rede zu dulden und mir so verständlich zu machen, daß ich zu euch gehöre, ganz und gar.

Nehmt das Bekenntnis meiner Liebe als lächerlichen Ersatz für jene Liebe, nach der ihr euch den ganzen Weg über sehnt und die ihr nie erlangen könnt; auch dann nicht, wenn ihr sie bezahlen wollt.

Wir sind eine seltsame Art; wir, die Kuckucksvögel dieser Erde, die, wenn die Schale gesprengt ist, noch gleich den anderen im Haar der Mutter spielen und unbeholfen die ersten Schritte versuchen. Aber nicht lange währt diese Gleichheit mit den anderen und früh, wie die Kinder armer Eltern, treten wir die uns zugewiesene Aufgabe an.

Wir stehen abseits im Turnsaal und möchten VtM vor dem Gelächter der Mutigen verkriechen, die den Sprung über die Schnur, den Griff am Reck unverzagt vollführen und das Besondere ihrer Leistungen erst an unserem Versagen erkennen. Auf der Straße werden wir aus den Händen der jungen Kämpfer durch mitleidige Passanten befreit und spüren mit diesen die beschämende Ohnmacht der Schwäche, die jenen das Alter und seine Würde, uns aber unsere Sendung auferlegt.

Wir stehen mit hektisch roten Wangen und feuchten Händen an den Wänden der Tanzschulen, und wenn wir mit den Kuckuckskindern des anderen Geschlechts den Reigen stolpern, so steigen wir ihnen auf die Füße. Wir sind immer verlegen, immer schüchtern, voll unklarer Vorstellungen, geheimer Sehnsüchte und einem brennenden Verlangen nach etwas Ungewissem, das nie gestillt wird und unser ganzes Leben anhält.

Wir stellen die Unfähigen, damit es Erfolgreiche gebe. Wir sind krank, den Gesunden zur Mahnung, häßlich um der Schönheit willen und schlecht, damit das Gute siegreich sei. Stündlich werden wir aufs neue gekreuzigt, hängen zu Seiten der Gerechten, und nur wenigen wird brechenden Auges die Verheißung des Paradieses zuteil.

Oh, wenn wir doch Heroen wären und Helden, die dem Gewaltigen die Waffe vor die Stiefel werfen und mit verbundenen Augen an einer Mauer sterben. Wir aber halten das Gewehr in den ausgestreckten Händen, wippen und hüpfen mit quellenden Augen und laufen keuchend Im Kreise. Wir stellen die Lullatsche der Kompanien.

Wir empfangen Almosen an den Pforten der Reichen und lassen die Spender im Bewußtsein der erfüllten Schrift zurück. Wir werden bemitleidet, belächelt, gerädert, gevierteilt, verbrannt und erstehen doch immer wieder aufs neue.

Immer warten wir hinter den Kulissen auf das Stichwort, das uns auf die Bühne ruft, wo unter dem Pfeifen und Pfuirufen des Publikums unser Spiel abläuft, und wanken müde in die Kulissen, während der Jubel, der den Helden des Schauspiels gilt, in unsere Ohren dringt.

Seid getrost, meine Brüder, seid getrost. All dies ist vom Autor der Komödie vorgesehen.

Am Ende des Spieles aber schminken wir uns mit den anderen ab, ziehen die Masken aus und legen unser gutes Kleid an, um mit der Diva, dem Helden und dem großen Mimen vor dem Direktor zu erscheinen. Dort werden wir alle den von Anbeginn feststehenden Lohn erhalten, in klingender Münze.

Und es wird nicht heißen: du Clown, sondern: du hast den Clown gut gespielt; das Publikum lachte Tränen.

Und es wird nicht heißen: du Schurke, sondern: du hast den Schurken gut gespielt; die Leute waren beeindruckt.

Dann werden wir alle nach Hause gehen.

Seid getrost, meine Brüder, seid getrost. Wenn euch in den Nächten auswegloser Verzweiflung das Grauen packt, wenn ihr ohne Hoffnung seid, der Angstschweiß eure Stirnen näßt und kein Sinn in diesem Leben mehr zu deuten ist, seid getrost.

Im Wesen der Schöpfung liegt der Sinn unserer Mission verborgen: Schleifstein zu sein, Spiegel, Mittel zur Unterscheidung überhaupt. Weil doch das Ding im Licht des Schattens bedarf, damit seine Konturen sichtbar werden.

Und wenn die Konturen schwinden, die Schatten fallen und alles nur Licht sein wird, werden auch wir vergehen und aufgenommen werden in diesem einzigen Licht.

Vielleicht aber hält auch jenseits der Werte die Differenzierung an. Im Lobpreisen der Gerechten wollen wir dann der Schemel für die Füße Gottes sein und Ihm nah, ganz nah.

Verzeiht mir, meine Brüder, wenn ich an das Wesen unseres Lebens rührte, das Dunkel störte und ins Unfaßbare griff. Wenn ich ein schlechter Fürsprecher, schlechter Interpret ge-, heimster Dinge bin. Vereeiht mir, wenn ich um ein Wort und einer Phrase willen zu kategorisch und zu selbstgefällig war und unserer Sache keinen Dienst erwies.

Aber ich würde nicht euch gehören, wenn ich anders wäre.

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