Ehemaliges Sanatorium Hoffmann, Kierling - ©  Klaus Pichler

Ana Marwan und Xaver Bayer über literarische Orte

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Bachmannpreisträgerin Ana Marwan in Kafkas Kierling, Xaver Bayer in Theodor Kramers Niederhollabrunn: Autorinnen und Autoren schreiben über literarische Erinnerungsorte in Niederösterreich.

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Bachmannpreisträgerin Ana Marwan in Kafkas Kierling, Xaver Bayer in Theodor Kramers Niederhollabrunn: Autorinnen und Autoren schreiben über literarische Erinnerungsorte in Niederösterreich.

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Zugegeben, dieser Schatz ist gut versteckt. Weder das Bild – weiße Hühner auf dem flachen, trüben Feld – noch der Text auf dem Cover verraten, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller für diesen umfangreichen Band tätig waren, geschweige denn welche.

Für Entdeckungen muss man den Band also erst einmal in die Hand nehmen (das Papier greift sich gut an, wenn erst einmal die unnötige Folie weg ist) und aufschlagen. Und siehe da, so vielfältig können Reisen an diverse literarische Erinnerungsorte in Niederösterreich, so schön können sie – auch mit Fotografien – gestaltet sein. Viele der hier angeführten Orte verbindet man vielleicht zunächst gar nicht mit Literatur. Der Band öffnet also auch die Augen für unauffällige Ortschaften, die man, wenn überhaupt, auf Reisen quert, ohne ­stehenzubleiben. Hervorzuheben sind aber vor allem die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die für diesen Band gereist sind und dann darüber geschrieben haben.

Die einzelnen Zugänge in diesem Band sind so unterschiedlich wie auch die Literatinnen und Literaten, denen die Beiträge nachgehen. Xaver Bayer etwa folgt der Frage „Wo bin ich zuhaus?“ und dem Dichter Theodor Kramer nach Niederhollabrunn, wo dieser als Sohn eines Arztes seine Kindheit verbracht hat. Bayer findet die Spuren des Ortes auch in späten Gedichten des Dichters, geschrieben im Londoner Exil. Michael Stavarič folgt Karl Farkas nach Edlach, Raphaela Edelbauer Wittgenstein nach Trattenbach, Hanno Millesi war in Gugging, Ferdinand Schmatz in Hagenberg, Mieze Medusa in Heidenreichstein, Andreas Jungwirth in Kirchstetten – und die soeben mit dem Bachmannpreis ausgezeichnete Autorin Ana Marwan war in Kierling, wo Kafka krank ins Sanatorium kam, um dort zu sterben.

„Er fühlte sich fremd angesichts der sinnwidrigen Welt, so wie wir alle“, schreibt Ana Marwan. „Ich finde es ein wenig witzig und ein wenig traurig, dass das Gefühl des Fremdseins uns Menschen so stark verbindet. Ich glaube auch, dass Kafka Dinge ein wenig witzig und ein wenig traurig fand.“ „K.“ heißt ihr Beitrag, und er beginnt mit einer Fiktion über die letzten Wochen Kafkas in diesem Sanatorium. Marwan lässt den Ort und Kafkas Texte sprechen.

Zugegeben, zum Mitnehmen bei Ausflügen ist dieser Band vermutlich zu schwer. Er wiegt immerhin fast eineinhalb Kilogramm. Aber für die Voraus- und Nachlektüre über Orte, an denen man sonst gedankenlos vorbeifahren würde, ist er wunderbar geeignet.

Beim Blättern und Lesen erschließt sich am Ende dann sogar noch jenes Bild auf dem Cover, das weder angesprochen noch gelockt hat. Es ist gerade das völlig Unspektakuläre, wo sich die Spuren von Denk- und Sprachkunst finden, die über Jahrzehnte zu uns sprechen, wie Theodor Kramers Verse, die er 1943 in seinem Londoner Exil geschrieben hat und die Xaver Bayer in seinem Beitrag zitiert:

Bevor ich sterb, möcht ich nachhause gehn,
noch einmal überm Feld den Friedhof sehn,
das Scheunentor, den Schlehdorn hinterm Haus,
das Dach, von dem im Mai die Fledermaus

zu Abend fiel in ihren stillen Flug,
das mürbe Steinmal an des Hohlwegs Bug;
im Ackergraben, drin ich lag als Kind,
möcht ich mich einmal sonnen noch im Wind.

Wie auf der Halde der Holunder sang,
gelobt ich mir zu singen; es gelang
mir ab und zu … wie siech ich war auch, heil
blieb mein Gesicht und war mein beßres Teil.

Die kleinen Lieder fruchten mir nicht mehr,
sie mögen andren fruchten; ich bin leer,
es fröstelt mich, mir bleibt nicht viel zu sehn:
bevor ich sterb, möcht ich nachhause gehn.


Theodor Kramers Wunsch sollte sich tatsächlich Jahre später erfüllen, vor seinem Tod im ­April 1958 kam er, dessen Mutter in Theresienstadt ermordet worden war, noch einmal nach Nieder­hollabrunn. Der Ort der Kindheit war freilich nicht mehr der Ort der Kindheit. Und Theodor Kramer musste feststellen: „Erst in der Heimat bin ich ewig fremd.“

Der Text erschien in der Printausgabe unter dem Titel: Auch das Gefühl des Fremdseins.

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