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Angstmeier vor der Zukunft ?

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J. B. von Salis, der kluge und für eine ganze Generation von Journalisten maßgebliche Schweizer Publizist, stellt sich in seinem Buch „Schwierige Schweiz“ die selbstkritische Frage, welche Gründe denn angesichts der ausgedehnten Weiten des Erdballes ein winziges Land mit sechs Millionen Einwohnern noch habe, seine Existenz als unabhängiger und souveräner Staat zu rechtfertigen. Und er kommt zu dem Schluß, daß es in der Tat nicht leichthin zu beantworten sei, warum man das „Schweizerische“ in der Welt brauche. Dreht man die Fragestellung ein wenig in Richtung Osten, so wäre vorweg eine Meinungsbefragung zwischen Boden- und Neusiedlersee höchst aufschlußreich: Ja, was ist denn heute noch, 1970, das typisch „österreichische“? Warum sollte man — in der Tat — dieses Österreich denn im Konzert der Völker brauchen? Was wie Provokation klingt, ist indes schlechthin die Schicksalsfrage an die Zukunft, will man nicht unterstellen, daß wir sowieso schon auf dem Weg zum Weltstaat austauschbarer, kaugummikauender, autofahrender und fernsehender Konsumidioten sind.

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J. B. von Salis, der kluge und für eine ganze Generation von Journalisten maßgebliche Schweizer Publizist, stellt sich in seinem Buch „Schwierige Schweiz“ die selbstkritische Frage, welche Gründe denn angesichts der ausgedehnten Weiten des Erdballes ein winziges Land mit sechs Millionen Einwohnern noch habe, seine Existenz als unabhängiger und souveräner Staat zu rechtfertigen. Und er kommt zu dem Schluß, daß es in der Tat nicht leichthin zu beantworten sei, warum man das „Schweizerische“ in der Welt brauche. Dreht man die Fragestellung ein wenig in Richtung Osten, so wäre vorweg eine Meinungsbefragung zwischen Boden- und Neusiedlersee höchst aufschlußreich: Ja, was ist denn heute noch, 1970, das typisch „österreichische“? Warum sollte man — in der Tat — dieses Österreich denn im Konzert der Völker brauchen? Was wie Provokation klingt, ist indes schlechthin die Schicksalsfrage an die Zukunft, will man nicht unterstellen, daß wir sowieso schon auf dem Weg zum Weltstaat austauschbarer, kaugummikauender, autofahrender und fernsehender Konsumidioten sind.

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Man kann die Frage aber auch trivial stellen und — soziologisch ter-minisiert — nach dem „Image“ suchen. Was haben wir Österreicher für ein „Image“?

Gibt es da zwischen den schon genannten Seen, zwischen Bohmerwald und Karawanken Klischees, die sich als festigend erweisen, oder Wahrheiten, die man nicht wahrhaben will? Ist Schein und Sein des Österreichers noch identisch? Oder hat Österreich bei sich zu Hause ein ganz anderes Image als jenseits der Grenzen?

Daß Österreich ein Kleinstaat ist, gehört, von welchem Standort immer man es auch sieht, zum Urgrund unserer Existenz. Die Weit sieht heute in unserem Land endgültig nur den kleinen Streifen entlang der Alpen; einen Streifen ohne Küste, irgendwo an der Schnittlinie zwischen West und Ost. 1918 konnte sich das kleingewordene deutschsprachige Land nicht damit abfinden, Kleinstaat zu sein. 1945 soll qq oi»iiir»i!t»n cAin Was wir ViAiift.A erkennen, ist in Österreich ein Nachholprozeß der Kleinstaatlichkeit, ein Wollen zur Kleinheit, eine Betonung der Kleinheit, ja (da und dort) ein Stolz auf Kleinheit. Der Verdauungsprozeß verursacht allerdings neuerdings Schluckauf. Und mit Recht meint gerade die jüngere Generation, daß wir so auf dem Weg sind, abgedrängte Provinz

— in des Wortes mieser Bedeutung

— Westeuropas zu werden. Denn alles Spekulieren auf die Öffnung des Eisernen Vorhangs, zuerst 1955, dann während Ungarns blutigem Oktober, 1956, dann in der Spätära Chruschtschows, zuletzt noch angesichts des tschechischen Frühlings 1968, erwies sich als Illusion. Man sollte vorweg registrieren: die Hoffnung kostet nichts, die Chance jedoch steht äußerst niedrig, daß uns der Brük-kenschlag nach Ost die Chance der nächsten Jahre bringt. Zuviel ist „drüben“ schon zementiert, um über

Nacht Geld und Touristen, Waren und Gedanken dem Handel freizugeben. Wir müssen es hinnehmen, wie es ist: die Tür zur Welt liegt für uns weiter in Udine, München und Zürich.

Vor fünf Jahren hat eine Meinungsbefragung ergeben, daß etwa 50 Prozent der Österreicher meinen, dem Deutschen von allen Nachbarn am ähnlichsten zu sein — 50 Prozent tippten auf den Schweizer. Seither — die Wette mag gelten — dürfte der Prozentsatz der „helvetischen“ Österreicher gewachsen sein. Und in der Tat: auch Schweizer Beobachter registrieren, daß Österreich einen erstaunlichen „Helvetisierungapro-zeß“ durchmacht: durch besseres „Gefühl“ für die außenpolitische Lage, durch wachsendes Erleben der Neutralität, durch die Notwendigkeit händlerischen Tuns nach allen Richtungen — und auch durch die Enge vieler Traditionen, Gewohnheiten, Strukturen.

Die Schweizer Eigenkritiker meinen, freundlichen Schweizer mit „Rot-Kreuz“-Binde, Bankgeheimnis und sauberer Blümenfassade — den häßlichen Schweizer mit Fremdarbeiterhaß, Kantönligeist und dem „guten Rat“ für die ganze Welt. Die österreichischen Eigenkritiker sehen vielfach nur eine Seite: die schlechte. Dabei hat Österreich Beachtliches seit 1945 geleistet, hat unter widrigen Umständen den Wiederaufbau geschafft, hat — als einziges Land der Welt — einen Rückzug russischer Besatzer erreicht, ohne selbst in den roten Einflußbereich zu geraten. Es hat innere Stabilität besessen, kaum eine ernsthafte Streikwelle gehabt, am wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg matgenascht. Hierorts brennen vor den Hochschulen keine Autos und prügeln auch keine Polizisten. Berufskritikern muß also fad sein. Und mit Berufsrevoluzzern stößt man beim Heurigen an, was sie normalerweise noch immer verharmlost hat.

Und doch: Wäre dieses Österreich so ganz vortrefflich gestaltet und verwaltet, wäre um die Zukunft kaum jemandem bange. Aber die Klugen sorgen sich. Wird's weiter aufwärtsgehen? These eins:

Österreich zerfällt in zunehmendem Maße in zwei klar abgrenzbare Hälften Da ist Westösterreich (jenseits der Enns) mit steigender Einwohnerzahl und steigendem Volkseinkommen. Dort vermengt sich zunehmende Industrie (vor allem „saubere“ Industrie) mit wachsendem Fremdenverkehr. In den Zentralzonen entstehen Stadtlandschaften mit guter Infrastruktur, aber schlechtem Sozialkontakt: der Raum Linz/Wels, vor allem aber die wachsende Zone zwischen Salzburg und Hallein, zwischen Kufstein und Zirl, zwischen Bregenz und Feldkirch. Für dieses Westösterreich (ein sozialistischer Vizekanzler qualifizierte es abfallend einst als „Alpen-Österreich“) ist schon heute München die heimliche Hauptstadt. Man kauft in München alles Wichtige ein, fährt dorthin ins Theater, hat dort zumindest einen Geschäftsfreund sitzen, hört den Bayrischen Rundfunk oder sieht das deutsche Fernsehprogramm Der Tourist aus dem Norden bringt Geld, die (oft schlechten) Sitten und hohen Preise, „Sahne“ und „Quark“. Wien ist weit weg.

östlich der Enns und auch südlich des Semmerings (sieht man von Kärnten ab, das einen „Mischtyp“ repräsentiert) siedelt der „Donauösterreicher“. Seit Jahren werden in Wien doppelt soviel Menschen begraben wie geboren. Der Anteil der Über-65-Jährigen steigt laufend. Der Ordinarius für Soziologie, Professor Bodzenta, meint, daß in Wien ein kleinbürgerlicher Habitus immer stärker um sich greift: er ist mit „ein Grund für das Scheitern eines gesellschaftlichen Lebens“. Tatsächlich: Von der Gesellschaft der Weltstadt an der Donau ist nur noch ein trauriger (aussterbender) Rest übrig. An seine Stelle trat eine durch die Parteimühle der Sektion gezogene politische Führerschaft und ein in allen Bereichen abnehmender Prozentsatz von eigenen Wiener Wirtschaftsfüh-rern, Wissenschaftlern oder Künstlern. Statt dessen regiert ein Beamtentum, das nur höchst selten dem großstädtischen Leben Glanzlichter aufsetzen kann.

Vor allem Österreichs Künstler, die in vielen Bereichen der Musik, Malerei und Literatur einiges zur Gegenwartskultur beigetragen haben, befinden sich in einem echten Frustrationsprozeß gegenüber der Hauptstadt. Von Berlin oder Hamburg aus schleudern sie Flüche gegen ihre Heimat — und selbst wer hier bleibt, spart nicht mit Spott. Hans Weigel meint, daß man sich Grobheiten aus Mistelbach anhören müsse, wenn man es mit Wien vergleicht ...

Freilich: Mistelbach und das niederösterreichische Kerndand „Donauösterreichs“ ist gleichfalls auf dem Weg, auszubluten. Die nächste Volkszählung, die 1971 fällig ist, wird erweisen, daß seit 1961 Niederösterreich in Relation mindestens eine Stadt von der Größe Klosterneu-burgs an Einwohnern verloren hat. Im Bezirk Zwettl liegt das Volkseinkommen je Einwohner um 54 Prozent unter dem österreicbdurch-scbnitt, in Hollabrunn verdient der Durchschnittsarbeitnehmer um

33 Prozent weniger als im übrigen Österreich.

Das wird auf die Entwicklung des ganzen Staatsgebietes nicht ohne Wirkung bleiben. Es ist auf die Dauer gefährlich, wenn die „Schere“ der Entwicklung immer weiter auseinandergeht — eine Entwicklung, die zwischen West und Ost in Österreich weitergeht..

These zwei:

Wiens abnehmende Bedeutung als Hauptstadt läßt für ganz Österreich kein Faszinationszentrum entstehen. Österreich ist auf dem Weg, zur Provinz (im schlechten Sinn) zu werden: abnehmendes urbanes Verhalten, mangelnde Mobilität, verschwommener Welthorizont. In ganz Österreich ist eine Geschmacksemigration festzustellen: Bausünden im Stadtbild können schon einen respektablen Bildband füllen, die Verhüttelung durch Weekendhäuser rund um Wien, der Alpinkommerz in Salzburg und Tirol, das geldbringende Standardgästehaus mit möglichst vielen Fremdenbetten und möglichst billigem Komfort, die Großhotels mit acht Ecken an Kärntner Seen beweisen es optisch. Dazwischen liegt ein trostloser Modernismus Wiener Gemeindebauten, niederösterreichischer Einheitsdorfstraßen und Neonespressos in Barockhäusern der Obersteiermark. These drei:

Der Kleinösterreicher läuft Gefahr, den Aktivkontakt mit der Welt immer mehr zu verliere». Er wird national introvertiert. Am Vergleichsbeispiel Schweiz läßt sich da manches beweisen: Pro tausend Einwohner beträgt die Auflage der Schweizer Tageszeitungen 376 — in Österreich nur 249. In der Schweiz existieren (1968) 132 Tageszeitungen — im Einwohnerstärkeren Österreich nur 36. Der Niveauunterschied sei nur am Rande vermerkt: aber auch durchschnittliche Schweizer Zeitungen bringen die Weltpolitik vorweg an erster und wichtigster Stelle — der Lokalteil ist unterbetreut. In Österreich finden wir gerade das Umgekehrte: Hierorts ist das Geschehen der Welt sekundär. Der Mord an der Greißlerin zweimal ums Eck fördert Verkauf und findet die Leser. In der kleineren Schweiz beträgt die wöchentliche Zahl der Arbeitsstunden 44,6 — in Österreich (noch vor der Einführung der 43-Stunden-Woche) um eine ganze Stunde weniger. Das macht — multipliziert man es mit 52 Wochen und der Gesamtzahl der Erwerbstätigen — eben einen der Unterschiede aus. Genau berechnet: 87 Prozent, um die der Durchschnittsschweizer mehr verdient als der Durchschnittsösterrei-cher.

Der Schweizer schreibt — umgerechnet je Kopf der Bevölkerung jährlich 35 Briefe ins Ausland. Der Österreicher nur 22. Und die Schweiz exportiert — wen würde das wundern — um 90 Prozent mehr als Österreich.

In den Schulen der Schweiz werden normalerweise drei — in vielen vier — lebende Sprachen gelehrt. In Österreich?

Wer in der Schweiz investiert, wer mit Schweizer Unternehmen fusioniert, ist hochwillkommen. In Österreich ist der Fremde suspekt. These vier:

Die ganze Welt ist in einem Prozeß der Mobilität verstrickt. Die „Änderung“ ist vielfach schon Fetisch, das Bestehende wird aus Prinzip in Frage gestellt.

In solcher Zeit entwickelt sich in Österreich immer mehr der Hang zur absoluten Sicherheit. Gesetzgebung und Arbeitsverfassung verstärken den Trend. Der einzelne wird von der Wiege an weidlich versorgt. Abfertigungen und Kündigungsschutz bewirken, daß echte Vorsorge des Arbeitnehmers durch sich selbst nicht besteht — und daß kein großzügiges Programm der Fortbildung und Berufsumschulung vorankommt. Die Schließung eines Bergbaus oder die Stillegung eines Betriebes werden nur zu leicht zu Sozialkatastrophen. Katastrophen, weil alles getan wird, die Mobilität zu beschränken, das Risiko auszuschalten und die Freizügigkeit gegen eine Scheinsicherheit aufzugeben. Mangelnde Mobilität in geographischer und beT ruflicher Hinsicht führt allzu schnell zu mangelnder geistiger Mobilität. Umdenkungsprozesse verlangsamen sich, Neuerungen finden vorweg Skepsis und Ablehnung, man blickt nicht mit kritischer Distanz in die Vergangenheit, sondern hat Angst vor der Zukunft.

So steht der Österreicher 1970 an einem Kreuzungspunkt: Wird er seine Kleinheit als Chance empfinden und durch weltoffene Mobilität faszinieren können — oder wird er ein kleinstaatlicher Angstmeier werden, dem das Risiko der Zukunft suspekt ist. Antithesen tun not. Sie wären zu wünschen.

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