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Anklage und Bitte des „Barackenpfarrers“
Unsere Republik feierte in diesem Jahre den zehnjährigen Bestand, verschiedene Institutionen halten ihr zehnjähriges Jubiläum. Ein Jubiläum eigener Art feiern wir dieses Jahr, das unserer Barackenwohnungen für Flüchtlinge.
Als einer, der von Anfang an inmitten der Flüchtlinge lebte, selbst auch die zehn Jahre in einem Barackenpfarrhof verbrachte, fühle ich mich als Seelsorger mehrerer Barackenstädte berechtigt, ein Wort der Anklage und dazu in letzter Stunde ein Wort der Bitte an alle Verantwortlichen im Staate und im Lande zu richten.
Unsere Flüchtlinge haben es jetzt ja ganz gut. Sie haben doch nette Wohnungen, sie sind alle nett angezogen. Sie fühlen sich doch recht wohl bei uns, sie haben ja Arbeit und Geld und können sich mehr als zu Hause leisten — so wird mir mancher entgegnen.
Wie steht es mit den Flüchtlingen in den Lagern wirklich? Sage ich zuviel, wenn ich behaupte: Sie sind leiblich zumeist versorgt, seelisch, aber haben sie schwersten Schaden genommen! “ •
Die schrecklichen Eindrücke der Aussiedlung, des Lagers und der Flucht waren in den ersten Jahren tief in ihr Antlitz geschrieben. Die Dankbarkeit gegen unser Vaterland, daß sie hier in Rühe, wenn auch vielfach in bitterer Not leben konnten, war aus ihren Augen zu lesen. Die Dankbarkeit gegen den Herrgott, der sie aus bitterster Drangsal in die Freiheit führte, wenn auch nach schweren Prüfungen, zeigte sich in ihrer Frömmigkeit und Innigkeit beim Gottesdienste. Wie oft durfte ich 1945 bis 1948 mit diesen Menschen schon einige Tage nach der Flucht den Gottesdienst feiern. Die Tränen in ihren Augen waren Dankes- und Freudentränen, bei Mann und Frau.
Nach zehn Jahren Seelsorgearbeit unter ihnen müssen wir folgende Feststellungen machen: In unseren Flüchtlingen hat sich in mehrfacher Beziehung ein erschreckender Wan-d e I vollzogen. Anfangs konnten wir ihnen immer wieder sagen: Ihr habt alles verloren, “aber doch wieder alles euch bewahrt, den Glauben. Die religiösen Zeichen in der Wohnung, das Kreuz, die Bilder, der Rosenkranz und der Weihbrunn sind jetzt noch fast in allen Wohnungen zu sehen, leider als bloßer Brauch, der sie nicht mehr weiterverpflichtet. Die Prozession zur Kirche am Sonntagmorgen wurde abgelöst durch die andere Prozession am Nachmittag ins Kino. Die jungen Brautleute versprechen beim Brautunterricht ihre aktive Beteiligung am kirchlichen Leben, lösen sich aber bald von allen Verpflichtungen. Dazu sei bemerkt, daß sich die Seelsorgepriester wirklich nicht geschont haben. Leider haben sich die Priester der Heimat und ihre Intellektuellen bei uns oder in Uebersee bessere Positionen ge-, schaffen und sind ihrem Volke in ihrer seelischen Not nicht beigestanden. Für uns einheimische Priester war es schwer, neben der Masse unserer Christen sich dieser, mit ihrer ganz anderen Mentalität, recht anzunehmen.
Neben dem Wandel im Glauben hat sich ein Wandel in sittlicher Beziehung vollzogen: die jungen Eheleute verneinen das neue Leben oder beschränken sich auf eine ganz geringe Kinderzahl. Ehebruch und Ehescheidungen, in der Heimat ganz unbekannte Dinge, mehren sich.
Die Schulkinder galten anfangs als die folgsamsten und eifrigsten in der Klasse, nun aber gibt es bedeutende Schwierigkeiten. In den Betrieben und am Bau stehen Flüchtlingsarbeiter bei kirchenfeindlichen und unsittlichen Reden nicht mehr zurück, Feindschaften innerhalb der Barackenbewohner sind an der Tagesordnung. Verschiedene Versuche unserseits, die Eltern auf die neue Situation und ihre Erziehungsfehler in der neuen Umgebung aufmerksam zu machen, scheiterten an ihrer Blindheit und am Hochmut: „So was hat es zu Hause nicht gegeben und wird es auch bei meinem Kinde nicht geben.“
Ein flüchtiger Lagerbesuch wird dies nie aufdecken, nur ein langjähriges Mitleben und Sorgen kann den Wandel von Glaube und Sitte feststellen.
Was sind wohl die Ursachen dieser Veränderungen? Auf einige soll hingewiesen werden:
1. Die besten und wachsten Menschen unter ihnen haben bald die Aussichtslosigkeit dieses Lebens gesehen und sind ausgewandert. Unsere einstigen aktivsten Leute wohnen jetzt irgendwo in Uebersee und bilden dort den guten Kern in einer christlichen Gemeinde. 2. Die vielen anderen, die aus Mangel an Energie oder aus anderen Gründen nicht auswandern konnten, haben sich apathisch ihrem Schicksal ergeben und wurden zum Großteil durch das teuflische Milieu unserer Industriestädte verwandelt. Ein kleiner Teil von ihnen hat durch die intensive Schulung in der KAJ und durch aktive Beteiligung am kirchlichen Leben standgehalten und bildet jetzt einen kleinen, aber wertvollen Kern unserer Pfarrgemeinde. 3. Die Hauptschuld des Verfalles trägt das Barackenleben. So viele Menschen wie nirgends sonst müssen hier auf engstem Räume zusammenleben. Dies bedeutet für alle eine Nervenzerreißprobe besonderer Art. Der Nachbar rechts und links läßt seine neueste Errungenschaft — einen Lautsprecher — dem ganzen Tag auf Hochtouren laufen. Diese Lärmkulisse innerhalb der dünnen Holzwände hat unseren Kindern und Jugendlichen in ihren Entwicklungsjahren die Nerven genommen und ihnen schließlich die Wohnung verleidet. Die Straße oder ein fragliches Heim tut das weitere.
Von der sittlichen Gefährdung auf solch engem Räume kann sich jeder selbst ein Bild machen, wenn ich berichte, wie ich es selbst anfangs durch Jahre beobachtet habe: In einem Räume 8 X 8 m lebten damals fünf komplette Familien. Dazu kommt noch, daß innerhalb des Lagers Familien und Einzelpersonen mit dem schlechtesten Rufe Unterschlupf fanden.
Ich klage an! Abgesehen von einigen tapferen Versuchen einiger Bundesländer und Diözesen, haben die Heimatvertriebenen bei uns nicht den < Ort gefunden, der ihnen entsprochen und gebührt hätte. Als gesundes Bauernvolk hätten sie unseren Bauernstand in jeder Beziehung gut auffrischen können. Anfangs lebte ja die Masse der Flüchtlinge bei Bauern. Großzügige Land-ansiedlungen durch einträchtige Hilfe von Staat und Kirche hätte wertvollste Kräfte unserem Volke erhalten können. Wäre dies nicht ein Liebeswerk gewesen, das der liebe Gott von uns gewollt hat? Und wir haben dies nicht gesehen.
Der liebe Gott ist nun bereits vorbeigegangen. Läßt er sich noch einholen und bei uns zu Gast laden?
Ich rufe '-auf und 'bitte!
Eine Landansiedlung wäre bis 1950 noch möglich gewesen urtd wird in Zukunft nur noch in kleinem Umfange, möglich werden. Die Jugend unserer Flüchtlinge, die^nun die kostbarsten Jahre in Baracken 'zugebracht hat und am Rande unserer Städte und Industrieorte lebt, hat kein Interesse mejhr für die Bauernarbeit. Vielfach sind sie bereits Facharbeiter in der Industrie oder im Gewerbe. Die mittleren Jahrgänge haben günstige Positionen als Bauhilfsarbeiter oder sind einfache Fabrikarbeiter. Die alten Leute sind durch die zehn Jahre seelisch zermürbt und stark gealtert.
Wo mehrere Verdiener in einer Familie sind, können sie sich einen teuren Baugrund kaufen und den Neubau eines Häuschens wagen, um so endlich einmal aus den Baracken herauszukommen. Mit bewundernswerter Energie und mit viel Optimismus stürzen sie sich dann auf den Bau eines Eigenheimes. Die vielen anderen, besonders Familien mit Kleinkindern, sind endgültig verurteilt, in den Baracken seelisch und körperlich zugrunde zu gehen.
Bei gegebenen Konjunkturschwankungen wird diese Volksschichte in erster Linie in Mitleidenschaft gezogen werden. Die ständige Unsicherheit und Ungeborgenheit, dazu die weltanschaulich und politisch leichte Beeinflußbarkeit und Unerfahrenheit kann aus ihnen einmal einen gefährlichen Zündstoff machen.
Das einzig Notwendige muß auch
möglich werden, wenn dies nur ehrlich erkannt wird: Alle Barackenwohnungen müssen-aufgelöst werden und die Bewohner ihnen entsprechende Wobnungen erhalten!
Fine Stadtgemeinde mußte die Erfahrung machen, daß ein eigens nur für Heimatvertriebene gebauter Wohnblock nur schwer Mieter fand. Die Enge eines Wohnblocks wirkt für diese Menschen bedrückend. Sie kommen ja vom Land.
Wäre es nicht möglich, daß man diesen Menschen in Stadtnähe billige Baugründe mit der Gelegenheit, auch etwas Kleinvieh zu halten, verschaffen würde? Die Leute werden, wenn sie die nötigen Kredite erhalten, wieder aufleben und sich selbst ein Heim schaffen. Und das wäre doch eine Chance für unser Vaterland, den lieben Gott zurückzurufen.
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